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Letzte Ausfahrt Oxford

Letzte Ausfahrt Oxford

Titel: Letzte Ausfahrt Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Stallwood
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Vögel verstanden. Vielleicht hätte ich endlich die Wahrheit erfahren.
    Ich sah die Wogen heranrollen. Sie brachen sich am Strand und brachten wirre Stränge von Tang mit. Er war dick und rotbraun, wie die Flechten meiner Prinzessin. Ich stellte mir ihr Haar vor, das von einer Kerze im Zimmer hinter ihr erhellt wurde, als ob sie in einem strahlenden Heiligenschein sitze.
    Und dann kam Tante Nell zu uns.
    Ich lag in der Badewanne und versuchte, den Durchlauferhitzer zu vergessen, der jeden Augenblick explodieren konnte. Die Risse in der Decke verwandelten sich in Bilder von Drachen, Hexen und Monstern. Ich hörte den Klopfer der Eingangstür und dann einige merkwürdige Geräusche, die sich zu einem lauten Lachen und schweren Schritten auf der Treppe steigerten. Die Badezimmertür wurde aufgestoßen, und sie stand vor mir, in wabernde Dunstschwaden gehüllt wie der Schurke in einer Pantomime.
    Sie war riesenhaft, ein gigantischer roter Seidenballon unter einem Hut, aus dem Federn spießten.
    »Ich«, verkündete sie, »bin deine Tante Nell.« Dann schwieg sie, als ob sie auf Applaus und Blumensträuße wartete.
    »Nein. Das bist du nicht«, antwortete ich und versteckte mich so gut es ging hinter meinem viel zu kleinen Waschlappen. Diese Missachtung meiner Intimsphäre gefiel mir ganz und gar nicht.
    »Oh doch, das bin ich«, erklärte sie.
    Ich wurde aus meinem Bett in ein schmales Feldbett umquartiert, und während der folgenden Woche teilten Tante Nell und ich uns mein Schlafzimmer. Die fremde Anwesenheit raubte mir zunächst den Schlaf. Nell schlief immer sofort ein, wenn sie sich hingelegt hatte. Ich wusste, dass sie schlief, denn im fahlen Nachtlicht konnte ich sehen, wie die Muskeln ihres Gesichts von den Knochen schmolzen als wären sie heißes Wachs. Aus ihren Körperöffnungen drang Luft mit einem Geräusch, das wie wuhff klang. Ich war noch nie dabei gewesen, wenn jemand gestorben war, aber ich stellte mir vor, dass die Seele den Körper in einer solchen Gasabsonderung verlassen könnte.
    Unser Schlafzimmer veränderte allmählich den Geruch. Ursache dafür waren ihre starken Pfefferminzbonbons und die Flasche Soir de Paris , die sie jeden Morgen öffnete und sich ein paar Tropfen ihres Inhalts auf die Haut tupfte, ehe sie sich in ihr rosa Korsett zwängte und die grauen Baumwollstrümpfe mit runden Gummiknöpfen an den Strapsen befestigte.
    Bei den Mahlzeiten pflegte Nell zu fragen: »Sind etwa Zwiebeln in diesem Eintopf, liebste Dilly?«
    »Aber die gehören da hinein«, raunzte Dilly.
    Dann entfernte Nell ostentativ sämtliche grauen Schnipsel aus ihrer Portion und reihte sie säuberlich am Rand ihres Suppentellers auf. »Zwiebeln sind so unbekömmlich, findest du nicht?«, sagte sie.
    Es gab viele Dinge, die Tante Nell unbekömmlich fand. Ihr umfänglicher Leib schien von zarter und verwöhnter Konstitution zu sein. Die Unverträglichkeit äußerte sich in leisen Rülpsern, die sie zierlich in den Falten ihres duftenden Taschentuchs auffing.
    Sie schloss das Klavier für mich auf. Es wohnte im vorderen Zimmer, und obwohl ich seine aufrechte, mit einem spitzenumrandeten Leinenläufer bedeckte Gestalt sehr wohl erkannt und sogar dann und wann an den Kerzenhaltern aus Messing gedreht hatte, war mir streng verboten, die Tasten zu berühren, die so gelb waren wie die Zähne eines Kettenrauchers.
    Tante Neils Hinterteil füllte den Klavierschemel voll und ganz aus und quoll an den Rändern über wie Pudding. Sie setzte mich auf ihren federbettartigen Schoß. Ihre dicken Arme zwängten mich ein. Ich musste mich gegen ihre korsettverschnürte Brust drücken, damit sie die Tasten erreichen konnte. Mit ihren Armen presste sie meine so fest an meinen Körper, dass ich mir nicht einmal die Ohren zuhalten konnte. Ich atmete Soir de Paris und starke Pfefferminzbonbons.
    Tante Nell hämmerte lautstark einige viktorianische Balladen, ehe ein Hustenanfall und heftiges Räuspern ihr Einhalt geboten.
    »Können wir jetzt Mahler hören?«, fragte ich, als sie aufgehört hatte. Aber ich glaube, sie verstand die Frage nicht.
    Sie holte mich von der Schule ab. Ihr roter Samthut flammte auf den hennafarbenen Locken, und eine kleine Fuchsstola duckte sich um ihre Schultern.
    »Was glauben diese Rotznasen eigentlich, wer sie sind«, sagte sie mit ihrer durchdringenden Stimme, als man uns wieder einmal missbilligende Blicke zuwarf. Sie ergriff meine widerstrebende Hand und zog mich hinter sich her die Straße hinunter.
    Sie

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