Letzte Ausfahrt Oxford
begann zu singen. Vermutlich waren es bekannte Volkslieder, aber ich presste meine Lippen fest zusammen. Wie konnte sie nur einfach so auf der Straße singen? So etwas tut man nicht in Oxford – noch nicht einmal in den Vororten.
»Aus dem Zwerchfell atmen«, kommandierte sie am Ende einer Strophe. »Kopf hoch, Schultern locker und die Arme schwingen lassen.« Ich war es gewohnt, zu gehorchen, und tat, was sie sagte. Als wir an unserem Reihenhaus ankamen, sangen wir beide aus vollem Hals. Wir machten so viel Lärm, dass in der gesamten Straße die Fenster klirrten.
»Das war schon viel besser«, sagte sie, während sie die Haustür aufschloss und mir in den Flur folgte. »Kinder sollten nicht so still und eingeschüchtert sein. Denk immer an dein Zwerchfell, Viv. Dann hört man dich bis in die obersten Ränge.«
Am nächsten Samstag erfuhr ich, was sie mit Rängen meinte. Unsere Theatersitze waren mit staubigem roten Plüsch bezogen, auf dem die jahrzehntelange Beanspruchung durch Vororthinterteile kahle Stellen hinterlassen hatte. Auch die Vorhänge waren rot. Die Goldborte, die als Schmuck gedacht war, schimmerte teilweise grünlich; an anderen Stellen franste sie in langen goldenen Fäden herunter. Über dem Zuschauerraum hing ein schwacher Geruch nach längst erkalteten Zigarren.
Und dann kamen Leute auf die Bühne und sprachen zu uns. Wir saßen nah genug, um die weiße Schminke auf ihren Gesichtern zu sehen, die schwarzen Linien um ihre Augen, die falschen Wimpern und die winzigen roten Tupfen in ihren Augenwinkeln. Es gab eine ganz in Weiß gekleidete Prinzessin; zumindest sagt mir das meine Erinnerung. Sie sang und tanzte. Ihre kleinen blauen Seidenschuhe wirbelten auf den Holzbohlen der Bühne herum. Es muss ziemlich staubig gewesen sein, denn die Schuhsohlen waren dunkel vor Schmutz.
»Ist das echt?«, fragte ich in der Pause.
»Echt? Wie meinst du das, Liebes?«, fragte Tante Nell.
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ist auch egal.«
Tante Nell nahm mich an der Hand und ging mit mir zu der Schlange vor dem Eisstand. Nachdem ich mich durch ein Erdbeer-Vanille-Hörnchen geschleckt hatte, verblassten die drängenden Fragen zur Bedeutungslosigkeit. Wir kehrten zum zweiten Akt zu unseren Plätzen zurück.
Die Prinzessin kam wieder auf die Bühne. Dieses Mal trug sie rosa Seidenschuhe. Sie hatte ihre heißen Wangen mit einer neuen Schicht blassen Puders bedeckt. Sie sang ein neues Lied. Das Publikum applaudierte und rief Bravo. So etwas würde ich gern machen, dachte ich. Vor Leuten stehen und so tun, als sei ich jemand anders. Erfundene Dinge sagen. Das musste wirklich die tollste Sache der Welt sein: sich Geschichten ausdenken und die Leute glauben machen, sie wären wirklich passiert.
Die Prinzessin hatte sich in einen Jungen verkleidet. An ihren dünnen Beinen trug sie beige Strumpfhosen, und ihr Haar hatte sie unter einer Mütze versteckt. Aber mich konnte sie nicht täuschen. Schließlich gab sie sich dem Prinzen zu erkennen. Mit einem Schwung lüftete sie die Wildlederkappe. Ihr langes Haar rieselte ihr über die Schultern bis zum Saum des Wamses hinunter. Im roten Scheinwerferlicht wellte es sich und schimmerte wie tausend winzige Flämmchen. Kein Wunder, dass der Prinz sich in sie verliebte.
Als das Stück zu Ende war, stellten sich die Schauspieler in einer Reihe auf und das Publikum applaudierte heftig. Ich dachte schon, das würde nie ein Ende nehmen. Meine Handflächen schmerzten vom Klatschen.
»Bravo!«, rief Tante Nell neben mir. Aus einer Loge neben der Bühne warf jemand einen Blumenstrauß herunter. Zehn dicke rosa Pfingstrosen lagen auf dem Holzboden, bis die Hauptdarstellerin sie aufhob. Sie, deren geschwungene rote Lippen mich angelächelt hatten, verbeugte sich und schickte dem jungen Blumenwerfer eine Kusshand hinauf. Sie hielt den Strauß hoch, verneigte sich noch einmal und lächelte wieder. Eine der Blüten vertrug das heiße, helle Scheinwerferlicht nicht. Sie zerbarst und verstreute ihre Blütenblätter auf der Bühne. Sie lagen auf dem Holzboden wie winzige abgehackte Hände von toten Babys.
Nachdem der Vorhang zum letzten Mal gefallen war, blieb ich stehen, bis ich ganz sicher sein konnte, dass sich keiner der Schauspieler mehr verbeugen würde. Aber immer noch konnte Tante Nell mich nicht zum Gehen bewegen. Vielleicht würde ja doch noch einer von ihnen aus dem Vorhang treten und den Gang entlangtanzen. Der Zauber könnte noch einmal von vorn beginnen.
»Komm mit,
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