Letzte Ausfahrt Oxford
Kleiner«, sagte Nell. »Die Schauspieler haben es dir anscheinend wirklich angetan. Pass auf, wir gehen zum Bühneneingang. Dort kannst du sie noch einmal bewundern, wenn sie herauskommen. Ich sehe schon, anders bist du nicht zufrieden zu stellen.«
Ich glaube, es regnete, aber das machte mir nichts aus. Nur wenige Leute warteten am Bühneneingang. Höchstens vier oder fünf standen zwischen den Mülltonnen und den Katzen mit ihren langen, beweglichen Schwänzen und den heiseren Stimmen herum.
Endlich kamen die Schauspieler. Aber sie erschienen mir klein und unscheinbar in ihren beigen Regenmänteln, wie sie ihre Regenschirme aufspannten, sich eine Zigarette anzündeten und zur Bushaltestelle rannten.
»Da kommt sie«, sagte Nell. »Da ist deine Prinzessin.«
Ich weigerte mich, ihr zu glauben. Die Frau – sie war weiß Gott kein Mädchen mehr – trug einen hellbraunen Regenmantel und kurze braune Gummistiefel. Ihr Kopf war nicht bedeckt. Wahrscheinlich hatte sie ihren Schirm vergessen, denn ihr Haar war nass und hing in dünnen Strähnen um ihr Gesicht. Es war kurzes Haar von einer undefinierbar bräunlichen Farbe. Sie rauchte. Ich sah den weißen Stängel, der an ihrer Unterlippe klebte, während sie mit ihren Kollegen sprach.
»Wo sind ihre Haare?« Anscheinend hatte ich laut gesprochen.
»Auf ihrem Kopf, Liebes«, sagte Nell. »Das andere war nur eine Perücke. Wusstest du das nicht?«
Ich sah ihr nach, wie sie durch die schmale Gasse davonging. In der rechten Hand schleifte sie einen Strauß Pfingstrosen hinter sich her. Das Licht der Straßenlaterne an der Ecke verlieh den Blüten eine bläulich graue Färbung. Eine Blüte verlor noch immer Blätter, die auf der Oberfläche einer öligen Pfütze langsam und nutzlos im Kreis trieben. Wir machten uns auf den Weg zu unserem Bus, der uns zurück in den Vorort von Oxford bringen würde.
Ich atmete aus dem Zwerchfell, aber so sehr ich mich auch bemühte – singen konnte ich nicht.
Als Nell starb, schrieb mir Tante Nonie einen Brief. Der Brief wurde mir über mehrere Adressen nachgeschickt und erreichte mich heute Morgen. Schlaftrunken und ungekämmt las ich ihn. Nonie hätte mir mit einem feuchten Waschlappen über das Gesicht gewischt, aber nachdem ich die Zugfahrpläne studiert und mir einen starken Kaffee gemacht hatte, ging ich unter die Dusche und schrubbte mich mit einem dicken Stück parfümierter Seife. Ich zog den besten Anzug an, der dunkel genug für eine Beerdigung war, ein taubengraues Hemd und eine schwarze Krawatte mit diskreten Silberpunkten. Mein Haar war noch feucht und straff nach hinten gekämmt. Ich betrachtete mich im Spiegel. Tante Nell wäre zufrieden gewesen.
Gerade wollte ich zum Bahnhof aufbrechen – bis zum nächsten Zug nach London blieb mir noch eine Menge Zeit –, da fiel mir ein, dass ich vielleicht ein paar Blumen mitnehmen sollte. Nell hatte Blumen geliebt, und es wäre nicht nett, das zu vergessen. Ich wohnte in einer Erdgeschosswohnung mit Gartennutzung. Der Garten war ein flaches Rasenstück mit einem einsamen Goldregen-Busch in der öden Mitte. Nichts für ein Grabgebinde. Nebenan wohnte eine große, laute Familie, die ich mir inzwischen zu Feinden gemacht hatte. Um diese Zeit am frühen Morgen waren alle ausgeflogen: die Kinder in der Schule, die Eltern bei der Arbeit. Ihr Garten bestand wie meiner hauptsächlich aus Gras, das dank häufiger Fußballspiele viele kahle Stellen aufwies. Aber am Rand standen einige Stauden und Büsche wie Forsythien, eine Quitte, etwas Unbekanntes mit dunklen, scharfen Nadeln und, auf der gegenüberliegenden Seite, ein Busch Pfingstrosen.
Jetzt, gegen Ende Mai, standen die Pfingstrosen in voller Blüte und sahen aus wie exotische Kohlköpfe.
Ich dachte gar nicht lange nach, sondern sprang über den Zaun, knickte ein paar Forsythienzweige ab und rannte über den Rasen. Schon hatte ich mein Taschenmesser in der Hand und schnitt sie ab: eins, zwei, drei, ein ganzes Dutzend dicker rosa Blüten. Im Handumdrehen setzte ich wieder über den Zaun und ließ eine stumme, abgeknickte Quitte zurück.
Ich glaube kaum, dass Nell dieser Gottesdienst gefallen hätte. Die Stimmen der Sänger sind flach, die Orgel schnauft, und der Geistliche hat Probleme mit den Nebenhöhlen. Aber ich stehe neben Nonie und Dilly, obwohl Nonie meinen etwas wilden Blumenstrauß mit missbilligenden Blicken mustert. Endlich ist es vorüber. Ich küsse die nach Puder duftenden Wangen der Tanten und sage die
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