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Letzte Ausfahrt Oxford

Letzte Ausfahrt Oxford

Titel: Letzte Ausfahrt Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Stallwood
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versiegte das warme Wasser, das Gerät stampfte und ächzte und explodierte schließlich in einem Gewirr von Rohren, Gas und blauen Flammen. Nein, das Sicherste sowohl für die Tanten als auch für mich war eine kurze Katzenwäsche mit einem feuchten, muffelnden Waschlappen. Das ganze Haus ertrank in modrigem, ältlichem Geruch. Jeder Raum hatte seine individuelle Note, aber über dem Ganzen hing der Geruch von uns drei Bewohnern, unsere Körperausdünstungen, derer die in Schüsseln lauwarmen Wassers aufgelöste Seife nicht Herr wurde, wenn wir uns am Samstagabend vor dem Kaminfeuer wuschen. Niemals wurden die Fenster geöffnet.
    Sie brachten mich zur örtlichen Schule. Tante Nonie, bis zum Hals in grauen Tweed eingeknöpft, ließ mich allein durch das Schultor sausen, während sie sich hinter einer Wolke aus bläulichem Zigarrendunst verschanzte. Tante Dilly kam mich abholen. Meistens war sie zu früh. Immer stand sie abseits der Gruppe wartender Mütter. Sie trug einen braunen Mantel. Ihr Hut sah wie ein Kuhfladen aus, den sie tief in die Stirn gezogen und mit einer bösartig aussehenden Hutnadel befestigt hatte. Ihre Füße quollen aus damenhaft spitzen Pumps; beim Gehen setzte sie die Fußspitzen so weit auswärts, dass sie immer zehn vor zwei anzuzeigen schienen. Der Pferdefleisch-Geruch klebte an uns beiden.
    »Lass sie ruhig über uns tratschen«, sagte Tante Dilly tapfer. »Das macht uns doch nichts aus!« Und sie marschierte vor mir her die Straße entlang. Der Kirchturm von St. Barnabas zeigte mit mahnendem Finger auf uns und verlangte vergebens, dass wir uns den Vorortsitten unterwarfen.
    Ich lebte in der Stille meiner eigenen Gesellschaft. Ich dachte mir Geschichten und Gefährten aus. Ich jonglierte mit der Musik und den Worten, die im Haus umherwirbelten wie bunte Bälle.
    Eines Tages in der Schule musste ich feststellen, dass mir nicht nur die Mutter fehlte.
    »Habe ich einen Vater? Wo ist er?«, fragte ich die Tanten.
    »Er ist sehr beschäftigt. Er hat keine Zeit, dich zu besuchen«, sagte Tante Nonie.
    »Aber dann habe ich einen?«
    »Jeder Mensch hat einen Vater«, sagte Tante Nonie.
    »Er musste ins Ausland verreisen«, sagte Tante Dilly. »Nach Indien oder China oder so.«
    »Wie Mami.«
    Sie sah mich seltsam an. »Ja, so könnte man es ausdrücken.«
    »Kommt sie vielleicht heute zurück?« Immer noch stellte ich von Zeit zu Zeit diese Frage.
    »Bestimmt schreibt sie dir bald einen Brief«, sagte Dilly. »Und dein Vater vielleicht auch.«
    »Ich glaube, sie ist gerade in Australien«, sagte Nonie. »Da kommt man nicht so leicht weg.«
    Ich stellte mir ein Land vor, wo die Füße an der Erde kleben blieben. Ich tat mein Bestes, damit sie mich zu ihr zurückschickten, aber sie wechselten einfach jeden Morgen meine Bettwäsche und ignorierten den durchdringenden Gestank in meinem Zimmer.
    »Kommt sie heute zurück?«, fragte ich. Es war fast eine Beschwörungsformel.
    »Ich bin sicher, sie kommt dich nächste Woche besuchen«, pflegte eine der Tanten zu antworten.
    »Spätestens übernächste«, fügte dann die andere hinzu. Diese Geschichte wurde immer wiederholt, als ob sie gedruckt und in einem Einband gefangen sei, wie die anderen Geschichten, die sie mir abends vor dem Schlafengehen vorlasen.
    »Erzähl mir die Geschichte von der Prinzessin mit dem langen Haar«, sagte ich, schloss die Augen, griff nach den glänzenden, rotbraunen Flechten und begann emporzuklettern. Das Haar kroch mir in Mund und Nase, und ich fürchtete, es könne mich ersticken, aber ich kletterte weiter. Irgendwann würde ich die Spitze und das goldene Licht in dem Zimmer erreichen, wo ich sie zu guter Letzt endlich finden würde.
     
    Wir fuhren ans Meer. Die Tage schrumpften zu einem einzigen Tag zusammen, einem Tag an einem zinngrauen Meer unter einem perlgrauen Himmel. Den aschgrauen Strand zierte ein schmaler Saum weißen Schaums.
    Ich wollte nur in den Dünen im singenden Gras sitzen und alles rings um mich her beobachten. Aber sie redeten ständig auf mich ein. Die ganze Zeit. »Sieh einmal dort, Viv«, sagten sie. »Da läuft ein Watvogel.« Oder auch: »Schau einmal, die Möwen. Sie suchen sich ein Frühstück.« Und dann lachten sie und gingen weiter. Ihre Knubbelzehen drangen durch die Löcher der ungewohnten Sandalen, mit denen sie die unschuldige Oberfläche des grauen Strandes entweihten. Wie gerne hätte ich den Möwen zugehört. Ich wusste, wenn ich ihnen ungestört hätte lauschen können, hätte ich die

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