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Letzte Ausfahrt Oxford

Letzte Ausfahrt Oxford

Titel: Letzte Ausfahrt Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Stallwood
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wird. Vielleicht nicht sofort. Ich lasse ihm Zeit.
    Den Namen, den meine Mutter mir gab, habe ich nie gemocht: Ich heiße Vivian. Ein Name, von dem man nicht weiß, ob er männlich oder weiblich ist, und der zu Peinlichkeiten führen kann. Als ich die Chance bekam, ihn zu ändern und damit meinem ganzen Leben eine Wendung zum Positiven zu geben, ergriff ich sie beim Schopf. Haben wir nicht alle manchmal den Wunsch, so etwas zu tun? Haben Sie sich nie gefragt, Mrs. Dolby, wie es wäre, die Person abzulegen, die Sie in den vergangenen dreißig Jahren waren, und ein neuer Mensch zu werden? So, als würde man eine alte, abgetragene Strickjacke ausziehen und in ein neues, schickes Jackett schlüpfen. Ein neuer Name, eine neue Karriere. Man lässt das Ansehen, das man sich erworben hat, einfach hinter sich und nimmt die Identität eines anderen Menschen an. Zwar blickt morgens noch immer das gleiche Gesicht aus dem Spiegel, aber der Name ist ein anderer, genau wie die Person, die dahinter steckt.
    Ich glaube, jeder, der sich einmal in der Schauspielerei versucht hat, weiß, wovon ich rede. Allerdings ist die Figur eines Bühnenstücks vorgegeben, desgleichen die Worte. Vielleicht fühlt man sich deshalb manchmal ein wenig steif und nicht ganz wohl in der fremden Haut. In meinem Fall aber geht es um Transformation. Um Metamorphose. Von der Raupe zum Schmetterling. Meinetwegen auch umgekehrt. Sofortige Genugtuung. Das war es jedenfalls für mich.
    Ich traf John auf der St. Giles. Beide warteten wir an der Bordsteinkante ein paar Radfahrer ab, ehe wir die Pusey Street überquerten. Mein Ziel war der Frisör auf der Little Clarendon Street, er war auf dem Weg die Woodstock Road hinauf zum Büro einer karitativen Vereinigung, wo er einen Job angenommen hatte. Einer der Vorteile Oxfords ist die geringe Größe der Stadt – lässt man die Touristen einmal außer Acht. Auf den Hauptgeschäftsstraßen trifft man ständig bekannte Gesichter.
    Es war ein heißer Tag, und wir gingen in den nächstgelegenen Pub. (Es war das »Eagle and Child«, und John ließ die Feststellung fallen, die sich anscheinend niemand verkneifen kann: dass Tolkien häufig in diesem Pub anzutreffen war.) Wir setzten uns in den Garten und bestellten geeistes Lagerbier.
    »So«, sagte ich und nannte ihn selbstverständlich bei seinem Namen – dem Namen, der heute mir gehört. Für Sie soll er einfach John heißen, so wie Sie sich daran gewöhnt haben, mich Vivian zu nennen. »John«, sagte ich, »wie ist es dir seit dem College ergangen?« John hatte einen guten Abschluss gemacht – deutlich besser als meiner.
    »Ich habe Bibliothekswissenschaften studiert«, sagte er und nannte den Namen einer großen und angesehenen Universität.
    Ich hob eine Augenbraue. John war sicher ein aufregenderes Leben vorbestimmt gewesen.
    »Ich interessiere mich für Sammlung, Organisation und Verbreitung von Informationen«, sagte er. Ich fand, es hörte sich etwas blasiert an. »Zumindest habe ich mich früher dafür interessiert. Doch dann ist mir aufgefallen, wie privilegiert ich mein Leben lang gewesen war und dass ich im Begriff stand, diese Privilegien an Menschen meiner Herkunft und meines Ranges weiterzugeben. Aber im Leben sollte ein tieferer Sinn liegen, findest du nicht?«
    »Aber sicher.« Natürlich hatte ich niemals weiter gedacht, als mir selbst einen einigermaßen angenehmen Lebensstandard zu sichern, aber schließlich entstammte ich auch nicht Johns sozialer Klasse. Einen Augenblick lang fürchtete ich, John würde nun etwas Peinliches sagen, wie etwa: »Hast du auch zu Jesus gefunden?« Aber auf seinem Gesicht zeichnete sich nur ein Ausdruck innerer Sammlung ab, als spräche er ein kurzes Gebet. Schließlich sagte er: »Glücklicherweise habe ich die richtigen Bücher gelesen und die richtigen Leute getroffen. Sie haben mir die Augen dafür geöffnet, wohin sich mein Lebensweg in den nächsten Jahren wenden sollte.«
    Wahrscheinlich ist es leichter, auf die guten Dinge des Lebens zu verzichten, wenn man sie in den vergangenen dreiundzwanzig Jahren immer mühelos zur Hand hatte. Aber uns, die wir noch immer darum kämpfen, sie überhaupt zu erreichen, käme ein solcher Entschluss erheblich schwerer an, glauben Sie nicht?
    Meine Idee entwickelte sich bereits im frühesten Gesprächsstadium.
    Ich hatte schon oft daran gedacht, Bibliothekar zu werden. Das Problem war nur, dass mein Abschluss nicht gut genug war. Zwar hätte ich mich mit meinem Notendurchschnitt

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