Letzte Ausfahrt Oxford
durchaus in Bibliothekswissenschaften einschreiben können, aber mein Abschluss reichte längst nicht für ein Stipendium, das mich ein Jahr oder länger über Wasser gehalten hätte. Ganz zu schweigen davon, ohne entsprechende Qualifikation in einer der guten Bibliotheken unterzukommen. Doch diese Schwierigkeiten waren überwindbar. Ich bin zwar nicht in der unmittelbaren Nähe goldener Löffel aufgewachsen, aber ich bin durchaus in der Lage, eine sich bietende Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen. Insbesondere, wenn der zusätzliche Kick einer gewissen Gefahr hinzukommt.
Das Traurige an wirklich guten Menschen – und ich glaube, dass John zumindest in dieser Lebensphase ein guter Mensch war – ist die Art und Weise, wie sie ihre eigene Wertvorstellung auf andere Menschen übertragen. Wenn man lächelt, betroffen dreinschaut und mitfühlend klingt, glauben sie, dass man tatsächlich so ist. Sie hegen nicht den geringsten Verdacht, man könne ein anderes als das von ihnen vermutete Motiv haben, nämlich den Wunsch, sich selbst ebenfalls gut zu fühlen. Ich saß also da, blickte betroffen drein, klang mitfühlend und stellte ihm eine Menge unverschämter Fragen. Ich erfuhr viel über John, angefangen vom Namen des Fachbereichsleiters seiner Fakultät bis hin zur Adresse seiner verwitweten Mutter. Ich erfuhr, dass er dem Rauchen, dem Konsum starker Alkoholika und der Gesellschaft von Frauen abgeschworen hatte. Er hatte auch mit seinen früheren Freunden gebrochen, weil ihm die Dinge, die sie gern taten, keinen Spaß mehr machten. Seine neuen Gefährten waren ernst und idealistisch. Sie hatten absolut nichts gemein mit der lauten, profanen Clique seiner Studententage.
Ich habe den Namen des Ortes in einem Entwicklungsland vergessen, wo John seine überprivilegierte Seele von aller Schuld zu befreien gedachte. Ich kann mich nur erinnern, dass er ziemlich unbekannt war und dass ich lange auf der Karte suchen musste, ehe ich ihn fand.
Vielleicht hätte ich die gesammelten Informationen niemals nutzen können, wären nicht zufällig zwei Wochen später in einer Zeitung am selben Tag sowohl eine Anzeige als auch eine Nachricht erschienen. Die Anzeige war ein Stellenangebot: In der Bodleian Library wurde ein Bibliotheksassistent gesucht. Bei der Nachricht handelte es sich um die nur wenige Zeilen umfassende Information, dass ein Mitarbeiter eines Hilfsprojekts in der Dritten Welt getötet worden war, und zwar in … nun ja, ich habe den Namen des Ortes vergessen. Aber an den Namen des Opfers erinnere ich mich sehr wohl. Er lautete John Exton.
Immer wieder las ich die Stellenanzeige. Für mich bestand nicht die geringste Aussicht, den ausgeschriebenen Job zu bekommen. John Exton hingegen hätten alle Türen offen gestanden. Aber John Exton war tot. Welch unglaubliche Vergeudung! Er hätte eine große Karriere machen können. Habe ich Ihnen schon erzählt, dass ich Verschwendung verabscheue? Ich nutze auch noch das letzte Stückchen Butter, das auf einem Teller übrig geblieben ist. Und so geschah es, dass die Idee, die als winziges Saatkorn im »Eagle and Child« ihren Anfang genommen hatte, allmählich keimte und nach einem zaghaften Würzelchen zwei grüne Blätter hervorbrachte.
Ich setzte mich hin und schrieb zwei Briefe: einen ans Sekretariat der Bodleian Library, in dem ich um nähere Information zu der in der Zeitung annoncierten Stelle bat, den anderen an John Extons verwitwete Mutter, in dem ich meiner tiefen Betroffenheit über den Tod meines lieben, engen Freundes Ausdruck verlieh. Ich drückte mich freimütig und männlich aus.
Beide Adressaten antworteten umgehend. Nur drei Tage später war ich im Besitz genauer Details über die Stelle an der Bodleian nebst einem Bewerbungsbogen sowie einer Einladung, John Extons Mutter zu besuchen und am Begräbnis meines Freundes teilzunehmen (das, und dafür hatte ich Verständnis, natürlich erst stattfinden konnte, nachdem sein Leichnam aus dem Entwicklungsland überführt worden war). Das Zusammentreffen dieser beiden Ereignisse schien mir viel zu eindeutig, als dass ich es hätte ignorieren können. Ich fotokopierte den Bewerbungsbogen ein paar Mal und füllte dann eines der Exemplare mit Bleistift so aus, als sei ich John Exton. Sie erwarteten Zeugnisse, und das bereitete mir zunächst einige Sorgen. Aber dann fiel mir ein, was John mir über die Größe und unpersönliche Art der beiden Universitäten erzählt hatte, an denen er (mit herausragendem Ergebnis)
Weitere Kostenlose Bücher