Letzte Bootsfahrt
Gasperlmaier erschrak. Sie wollte eine Tote wieder ausgraben lassen? Auf dem Altausseer Friedhof? Das würde einen Aufruhr geben!
Statt seine Einwände zu artikulieren, fragte er jedoch bloß: „Warum denn?“ „Denken Sie doch einmal nach, Gasperlmaier“, antwortete sie. „Wenn der Voglreiter vor fünfzig Jahren von einem Mitglied unserer Herrenrunde etwas angetan worden ist, dann könnte es doch sein, dass derjenige sie jetzt aus dem Weg geräumt hat, damit sie niemandem darüber erzählen kann.“ Gasperlmaier fand das zunächst logisch, nach einiger Zeit jedoch fiel ihm etwas ein, das die Frau Doktor nicht bedacht hatte. „Warum sollte denn die Voglreiterin ausgerechnet jetzt, nach über fünfzig Jahren, jemandem etwas erzählen?“ Die Frau Doktor zuckte mit den Schultern. „Den Grund dafür müssten wir herausfinden. Es kommt ja in letzter Zeit häufig vor, dass Opfer von Misshandlungen nach sehr langer Zeit ihr Schweigen brechen. Haben Sie noch nichts von den vielen Fällen von Missbrauch in den Heimen und Internaten gehört?“ „Doch, doch!“, nickte Gasperlmaier. Die Zeitungen und die Fernsehnachrichten waren ja voll davon, da wäre es ein Wunder gewesen, wenn er nichts mitbekommen hätte. Die Christine war auch in einem katholischen Internat in Gmunden draußen zur Schule gegangen, weswegen sie diese Berichte immer aufmerksam verfolgte. Seelisch, so erzählte sie, seien die Schwestern teilweise schon grausam gewesen, sonst aber nur entsetzlich weltfremd.
Dennoch graute Gasperlmaier bei dem Gedanken, dass er neuerlich auf den Friedhof musste, diesmal um dem grauenerregenden umgekehrten Vorgang beizuwohnen, nämlich dem Ausgraben einer Leiche. Das würde den Altausseern gar nicht gefallen, der Mutter schon überhaupt nicht.
„Aber der Doktor hat doch sicher eine natürliche Todesursache festgestellt!“, versuchte er noch einmal, die Frau Doktor umzustimmen. Die aber fauchte nur verächtlich. „Die schauen doch nicht einmal genau hin. Vor allem, wenn jemand sowieso schon krank war. Und Obduktion hat’s garantiert keine gegeben. Haben Sie gewusst, Gasperlmaier, dass vermutlich jeder zweite Mord gar nicht als Mord erkannt wird und es daher auch keine Ermittlungen gibt? Stellen Sie sich das einmal vor!“ Gasperlmaier war ehrlich erschüttert. Er versuchte noch nachzurechnen, wie viele unentdeckte Morde es dann im Ausseerland in der Zeit seiner Tätigkeit als Polizist gegeben haben musste, als die Frau Doktor schon weitersprach. „In Deutschland zählt man im Jahr ungefähr 800 Morde. Das heißt, 800 weitere Menschen werden ermordet, ohne dass es jemand merkt. In Österreich wären’s, laut Statistik, im Jahr ungefähr fünfzig.“ Gasperlmaier sah in Gedanken die Gräberreihen auf dem Altausseer Friedhof vorbeiziehen. Voller Mordopfer konnten sie sein, ohne dass man je etwas darüber wissen würde. Die Welt war ein grausamer, gefährlicher Ort. Hoffentlich würde nicht auch er einmal unter den unentdeckten Mordopfern landen.
„Aber jetzt, Gasperlmaier, gehen wir zum Supermarkt in Bad Aussee. Und da fragen wir, welchen Grund der Herr Schnabel heute für seine Abwesenheit vom Dienst angegeben hat. Da bin ich einmal gespannt!“ Gasperlmaier schöpfte Hoffnung. Supermarkt, das bedeutete, man konnte dort auch etwas zu essen kaufen. Auch wenn die Frau Doktor aus einem ganz anderen Grund dorthin wollte.
Als sie den Supermarkt betraten, erinnerte sich Gasperlmaier, dass der Herr Schnabel gerade Stücke von einer knusprigen Grillstelze gejausnet hatte, als sie zuletzt hier gewesen waren. Möglicherweise, so dachte er bei sich, war auch heute etwas davon vorrätig. An der Kassa saß wieder das Mädchen mit den geschorenen Haaren und der Spinnennetztätowierung. „Hallo!“, rief sie fröhlich, als sie Gasperlmaier und die Frau Doktor erkannte. „Der Herr Schnabel ist heute leider nicht da!“ „Macht nichts“, antwortete die Frau Doktor und wartete, bis sich die zwei Kunden, die gerade an der Kassa angestanden waren, mit ihren Einkäufen aus dem Staub gemacht hatten. Dann trat sie zur Kassierin hin. „Wissen Sie, aus welchem Grund der Herr Schnabel heute nicht da ist?“, fragte sie. Das Mädchen nickte. Gasperlmaier sah einen außen offenen Ring in ihrer Unterlippe stecken, von dem er sich nicht sicher war, ob er auch beim letzten Besuch schon da gewesen war. Am Ende war dieses Mädchen süchtig nach Tätowierungen und Piercings. Er hatte scheußliche Fotos im Internet gesehen, von
Weitere Kostenlose Bücher