Letzte Bootsfahrt
Glock. Gasperlmaiers Nervosität stieg. Einsätze mit gezogener Waffe waren nicht gerade seine Stärke, er zögerte und überlegte in der Regel viel zu lang, um in brenzligen Situationen richtig handeln zu können.
Nun hörte Gasperlmaier es auch. Etwas raschelte. Nur wo das Geräusch herkam, das konnte er nicht genau ausnehmen. Von links? Von vorne? Hinter der Mauer da? Plötzlich warf sich die Frau Doktor mit gezogener Waffe nach vorne und rollte gekonnt über die Schulter ab. Zu Gasperlmaiers Linker schoss ein Reh aus dem Gestrüpp und stürmte hangabwärts auf den schützenden Wald zu, in dem es wenige Sekunden später verschwand. Die Frau Doktor stand bereits wieder vor ihm, die Waffe weggesteckt, und versuchte, mit den Händen den Dreck von Hose und Jacke zu wischen. „Fast hätten Sie heute Abend Rehgulasch bekommen“, lächelte sie. „Dabei hab ich nicht einmal einen Jagdschein!“
Den restlichen Weg bis zum Aussichtsturm, der auf der Talseite der Ruine errichtet worden war, legten sie rasch, aber nicht mehr so vorsichtig zurück wie zuvor. Wenn da jemand war, so sagte sich Gasperlmaier, dann hatte er ohnehin bereits gehört, dass er nicht allein war.
Das kleine Plateau lag jedoch menschenleer vor ihnen. „Da unten würden Sie Altaussee sehen.“ Gasperlmaier deutete mit ausgestrecktem Arm in die Nebelsuppe. „Da links der See, hier vorne die Ortschaft.“ „Ja, ja!“, antwortete die Frau Doktor. „Es ist jetzt halb zehn. Der Herr Lukas sollte eigentlich schon da sein.“ Fast im gleichen Moment zwitscherte das Handy der Frau Doktor. Sie holte es aus der Handtasche und blickte aufs Display. „Da ist er ja schon. Er kommt gleich zu uns herauf, schreibt er.“
Als der Lukas Pauli auftauchte, begann es wieder einmal zu regnen. Er trug Lederhose, Trachtenjacke und Ausseerhut. Fast schien es Gasperlmaier, als habe er sich für den Anlass fein gemacht. „Wir gehen hinauf!“, entschied die Frau Doktor ohne lange Begrüßungen. „Sie stellen sich hier unter.“ Die Frau Doktor deutete auf einen großen Tisch und zwei Holzbänke über denen sich eine überdachte hölzerne Plattform erhob, die den Besuchern erlauben sollte, über das Gesträuch hinweg die Aussicht auf den Altausseer See zu genießen. Die Plattform war über ein paar Stufen zu erreichen. Gasperlmaier warf skeptische Blicke nach oben. „Einen besseren Platz gibt es nicht!“, sagte die Frau Doktor. „Wir schauen durch die Ritzen hinunter und können sofort eingreifen, wenn es brenzlig wird.“ „Und mich wollt’s da herunten allein lassen?“, fragte der Pauli, der sich sichtlich unwohl in seiner Haut fühlte. „Seid’s euch sicher, dass ihr mir helfen könnt, wenn der auf mich losgeht?“ Die Frau Doktor war schon auf der Treppe zur Plattform. „Wir greifen rechtzeitig ein, keine Sorge!“
Gasperlmaier legte sich, der Anordnung der Frau Doktor folgend, auf den rauen Bretterboden. Ein kühler Wind strich über seinen Rücken und ließ ihn frösteln. Die Frau Doktor rückte ein kleines Stück vor, um durch ein Astloch im Bretterboden sehen zu können. Gasperlmaier blickte um sich, fand, eine Armlänge links von sich, ein weiteres und rutschte dorthin. Der Regen trommelte mittlerweile recht heftig auf das Dach über ihnen. Der Wind wurde so stark, dass der Regen fast waagrecht herangeweht wurde. Gasperlmaier spürte Tropfen auf seinem Rücken. Das würde eine wunderbare Verkühlung geben, dachte er bei sich. Das Osterwochenende konnte er dann im Krankenstand feiern. Außer den Geräuschen von Regen und Wind war weiter nichts zu hören. Warum bloß hatte er nicht an eine Regenjacke gedacht. Wenn der Regen nicht bald aufhörte, würde er durch und durch nass werden.
Obwohl ein paar dicke Balken seine Blicke behinderten, konnte er sehen, dass der Pauli sich auf den Tisch gesetzt und den Hut abgenommen hatte. Der lag jetzt neben ihm. Seine Blicke hatte er starr auf den Weg gerichtet, von wo der Schreiber der Drohbriefe kommen musste. Die Frau Doktor sah auf ihre Uhr und bedeutete Gasperlmaier, seine Waffe zu ziehen. Dann legte sie wieder den Finger an den Mund.
„Seht’s ihr schon was?“, flüsterte der Pauli von unten. Die Frau Doktor brachte ihn mit einem kurzen „Pst!“ zum Schweigen. Gasperlmaier zog seine Dienstwaffe und legte den linken Arm so auf den Bretterboden, dass er die Waffe nahe an seinem Kopf spürte. Sein rechter Arm begann einzuschlafen. Ob er ihn noch einmal bewegen konnte, um die Blutzirkulation wieder in Gang
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