Letzte Bootsfahrt
zu bringen? Die Zeit wollte und wollte nicht vergehen. Der Pauli rutschte unruhig auf dem Tisch hin und her. Gasperlmaier drehte vorsichtig seinen Kopf, um zur Treppe hinzublicken, die zu ihnen heraufführte. Dort war niemand zu sehen. Als er sein Auge wieder dem Astloch näherte, hatte er den Pauli im Blickfeld, sonst aber nichts. Der hatte seinen Hut wieder aufgesetzt.
Ohne dass er jemanden hätte kommen sehen, hörte er plötzlich unter sich ein Zischen und Flüstern. Gasperlmaier hielt den Atem an, um nur ja kein Geräusch zu verursachen. Dennoch konnte er nicht alles verstehen, was unten gesprochen wurde. „ … du wenigstens vernünftig sein? … der Polizei erzählen?“ Gasperlmaier wagte sich nicht zu bewegen, und so konnte er nur schwarze Hosenbeine erkennen, die direkt hinter den Lederhosenbeinen des Lukas Pauli aufgetaucht waren. Woher sie gekommen waren, war ihm völlig schleierhaft. Er hatte weder etwas gesehen noch etwas gehört. „Ich war doch gar nicht dabei! Das war der Schwaiger Michl! Ich doch nicht!“, schrie der Pauli in Panik. Die Frau Doktor rührte sich nicht. Hoffentlich, so dachte Gasperlmaier bei sich, würde der Pauli jetzt nicht nach ihnen rufen. Das wäre das Dümmste, was er tun hätte können, den Täter darauf hinzuweisen, dass sie oben auf der Plattform lagen. Trotz der Nässe, die von unten wie von oben in seine Kleider drang, wurde Gasperlmaier heiß. „Zugeben musst es! Sonst stirbst!“, zischte der Mann wieder. „Weißt nicht, wie viele schon gestorben sind?“ Der Mann da unten sprach eindeutig einheimischen Dialekt. Hörte er sich an wie der Loisl? Dieses zischende Flüstern machte es ihm nicht gerade leichter, die Stimme zu erkennen.
Gasperlmaier fragte sich, wie lang die Frau Doktor dem Treiben noch zusehen wollte. Was für einen Grund gab es noch abzuwarten? Der Täter war hier direkt unter ihnen, sie brauchten nur zuzugreifen. Musste sie den armen Pauli so lange schmoren lassen? Unten begann ein Ächzen und Stöhnen, die Beine des Pauli verloren ihren Halt auf der Bank. Jetzt aber mussten sie doch eingreifen! Gasperlmaiers linker Arm mit der Waffe zuckte. Jetzt!
Plötzlich überstürzten sich die Ereignisse. „Ich bin Erster!“ Eine fröhliche Kinderstimme erschallte, Gasperlmaier hörte Schritte auf der Treppe, und ein blonder Schopf tauchte am Rand der Plattform auf. Gleichzeitig war die Frau Doktor aufgesprungen und losgestürmt, um ein Haar hätte sie das Kind über den Haufen gerannt. „Diese Idioten!“, schimpfte sie, bevor Gasperlmaier sie aus den Augen verlor. Unter sich hörte er Rumpeln, Stöhnen und Schreie. „Hände hoch!“, schrie die Frau Doktor, und bevor Gasperlmaier sich noch aufgerappelt hatte und über das Geländer der Plattform blicken konnte, knallte ein Schuss. Jemand schrie laut auf. Das Kind, ein Bub von vielleicht acht oder neun Jahren, geschützt durch eine neongelbe Regenjacke, stand starr am Rand der Plattform. Gasperlmaier kniete sich vor ihm hin und nahm ihn an der Hand. „Brauchst keine Angst haben. Es passiert dir nichts. Wo sind denn deine Eltern?“ Der Bub rührte sich nicht. Einerseits fand Gasperlmaier, dass er bei dem Kind bleiben und auf es aufpassen musste, andererseits wusste er nicht, ob sich nicht da unten jemand in seinem Blut wälzte und Hilfe brauchte.
„Felix! Felix!“ Eine Frau, ebenfalls blond, kam den Weg heraufgerannt, hinter ihr ein Mann, der einen Kinderwagen schob. Die Frau stürzte die Treppe herauf, Gasperlmaier drückte ihr den Buben in die Hand und sprang die Treppe hinunter. Unten saß der Pauli wieder auf dem Tisch und atmete schwer. Von der Frau Doktor und dem schwarz gekleideten Mann war nichts zu sehen. „Wer hat denn geschossen?“, rief Gasperlmaier aufgeregt. „Wo ist denn die Frau Doktor?“ Der Pauli hustete und räusperte sich, sagte aber kein Wort. Gasperlmaier trat zu ihm hin und schüttelte ihn. „Red doch! Wo sind sie!“ Der Pauli deutete vage in Richtung Altaussee hinunter, in der Richtung führte aber kein Weg durch das Dickicht.
Gasperlmaier lief zum Rand der ebenen Fläche vor dem Aussichtsturm. Der Pauli rief ihm hinterher. „Gewürgt hat er mich!“ Gasperlmaier stürzte sich ins Gestrüpp. Steil nach unten ging es, und ob er nass wurde oder nicht, war ihm jetzt völlig egal. Wie ein wildgewordener Eber brach er durchs Gebüsch und ignorierte Brennnesseln und Unterholz. „Frau Doktor Kohlross!“, rief er. „Wo sind Sie?“ Der Gedanke, der Angreifer könnte auf sie
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