Letzte Bootsfahrt
das die Mutter ihm genannt hatte. Einige Stellen auf den beiden Seiten waren verschwommen, so, als ob die Schreiberin Wasserflecken hinterlassen hätte. Vielleicht, so dachte Gasperlmaier bei sich, waren es Tränen gewesen. Seine Vermutung wurde zur Gewissheit, als er las. Über vier Seiten erstreckte sich der Eintrag. Als er fertig war, war Gasperlmaier selbst den Tränen nahe. Er klappte das Buch zu und legte es wieder auf den Tisch. Um seine Gemütsregungen vor der Mutter zu verbergen, nahm er die Brille ab und wischte mit dem Handrücken über die Augen.
„Da kannst du ruhig weinen, Franzl. Das ist auch zum Weinen“, sagte die Mutter, plötzlich ganz sanft. Dennoch war es Gasperlmaier peinlich, dass er vor der Mutter zu heulen anfing. Er atmete tief durch. Es ging schon wieder. Das, was er da gelesen hatte, das musste sofort die Frau Doktor Kohlross erfahren. Es erklärte alles, was in den letzten Tagen passiert war. Und vielleicht noch passieren konnte, wenn sie nicht schnell handelten.
„Mama“, sagte Gasperlmaier mit ein wenig zittriger Stimme. „Warum hast du uns das nicht früher gezeigt?“ Die Mutter seufzte. „Weil ich’s der Friedl versprochen habe. Ganz fest. Und weil ich zuerst natürlich nicht daran gedacht habe, dass es was mit den Morden zu tun haben könnte. Ich hab’s ja am Anfang selber nicht gelesen, weil’s mir die Friedl verboten hat. Glaubst du, ich wär mit dem Schwaiger Michl fortgegangen, wenn ich das alles gewusst hätte?“ Gasperlmaier schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. „Dann hättest ihm wahrscheinlich eher den Schädel abgerissen, als mit ihm fortzugehen. Aber dem Manzenreiter, dem hättest vielleicht das Leben retten können, wenn du uns das Buch früher gezeigt hättest!“ Die Mutter schnaubte verächtlich. „Und wer sagt dir, dass ich das wollen hätte? Der hat über fünfzig Jahre gemütlich gelebt, ohne dass ihn die Schuld geplagt hat! Sogar zu ihrem Begräbnis sind sie gekommen, die Lumpen! So, als ob nichts gewesen wäre! Das ist ja überhaupt der Gipfel! Nein, Franz!“ Nun kamen auch der Mutter die Tränen. Sie bemühte sich gar nicht erst, sie zu verbergen. „Die zwei haben das redlich verdient! Viel früher hätten sie es verdient gehabt! Und dass der Pauli Todesangst hat ausstehen müssen, das war auch nur gerecht! Immerhin hat er bei allem gemütlich zugeschaut und sich köstlich amüsiert!“
Gasperlmaier wagte gar nicht, sich das Martyrium der Voglreiter Friedl vorzustellen. Gespannt war er, ob bei der Obduktion etwas herauskommen würde. Vielleicht war sie ja von der Hand eines der späteren Mordopfer gestorben. Am Ende hatten sogar alle zusammengeholfen. Aber das würde sich ja hoffentlich noch herausstellen. Die Gerichtsmediziner, so hörte man, vollbrachten ja manchmal wahre Wunder. Wenn man beim Ötzi herausfinden hatte können, was er gegessen hatte, dann würde man vielleicht auch bei der Voglreiterin feststellen können, woran sie wirklich gestorben war.
Aber da waren noch zwei Namen im Tagebuch der Voglreiterin, die Gasperlmaier nicht kannte. Er holte sein Handy aus der Jackentasche, um die Frau Doktor anzurufen.
17
Einen freundlichen Empfang, fand Gasperlmaier, hatte die Mutter der Frau Doktor nicht bereitet. Zu trinken jedenfalls hatte sie nichts angeboten. Zumindest aber war die Mutter bereit, mit ihr zu reden. Im Moment jedenfalls.
„Die Frage, die ich mir stelle“, sagte die Frau Doktor gerade, „ist folgende: Wenn die Frau Voglreiter Ihnen ihr Tagebuch überlassen hat, wie konnte dann jemand anderer von der Vergewaltigung erfahren? Vor allem, wie kann der Loisl davon wissen?“ Anscheinend, vermutete Gasperlmaier, war auch die Frau Doktor nunmehr überzeugt davon, dass der Loisl die drei Männer auf dem Gewissen hatte. Und nicht zu vergessen den Anschlag auf ihn selbst. Gasperlmaier strich vorsichtig über seine Beule. Sie schien noch größer geworden zu sein. Halsschmerzen hatte er jetzt auch noch.
„Sie hat schon so Andeutungen gemacht“, antwortete die Mutter, „dass es noch ein Exemplar gibt. Dass sie es für sich noch einmal abgeschrieben hat, oder so. Recht klar hat sie sich nicht ausgedrückt.“ Die Frau Doktor seufzte. „Wenn Sie sich genau erinnern könnten, was sie gesagt hat …“ „Ja, ich bin halt schon alt!“, regte sich die Mutter auf. „Und hören tu ich nicht mehr so gut, und an jedes Wort kann ich mich auch nicht erinnern, das jemand zu mir sagt.“ Gasperlmaier aber hatte den Verdacht, dass
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