Letzte Bootsfahrt
trinken wir einen Schnaps, und dann sagst du endlich, was du von mir willst. Sonst werd ich wirklich böse!“ Gasperlmaier wusste, wann es Zeit war aufzugeben. Er stürzte seinen Schnaps hinunter. „Ja, Mama, es ist wegen der Voglreiterin und dem Loisl.“ Die Mutter setzte sich wieder hin und nahm ihr Schnapsstamperl zwischen zwei Finger, ohne daraus zu trinken. „Was ist mit dem Loisl?“, fragte sie. „Ja, weißt du, die Frau Doktor hat die Voglreiterin exhumieren lassen, weil …“
Weiter kam er nicht. Die Mutter stieß einen Schrei aus und schlug die Hände vor den Mund. „Aus dem Grab habt’s sie wieder herausgeholt? Darf sie denn nicht einmal im Tod ihre Ruhe haben, die Friedl? Was ist ihr denn da eingefallen, der blöden Funzen, die sich bei uns herinnen überhaupt nicht auskennt?“ Die Mutter sank wieder auf das Sofa zurück, kopfschüttelnd. „So ein Unglück!“, jammerte sie noch einmal. Dann konnte Gasperlmaier fortfahren. „Die Frau Doktor meint halt, dass der Loisl was mit den Morden zu tun hat. Und dass er was weiß, und dass du vielleicht auch was weißt, was wir nicht wissen …“ Gasperlmaier hatte sich in seinem Satz gründlich verhaspelt, atmete tief durch und versuchte es noch einmal von vorne.
Die Mutter aber starrte ihn plötzlich mit vor Schreck geweiteten Augen an und stand dann auf. Gasperlmaier hörte sie über die Stiege hinaufsteigen, kurz danach knarrte der Boden in ihrem Schlafzimmer, und wenig später kam die Mutter wieder herunter. In der einen Hand hielt sie ein dickes, vergilbtes Notizbuch. Sie knallte es vor Gasperlmaier auf den Tisch, sodass ein wenig Staub aufstiebte. Vom Tisch konnte der nicht sein, dessen war sich Gasperlmaier sicher. Kreuzweise war das Notizbuch mit einem blauen Band zusammengebunden, wie ein Weihnachtspaket, die Masche saß vorn auf dem Umschlag des Buches. „Ich hab’s der Friedl zwar versprechen müssen, dass es niemand zu sehen kriegt, aber jetzt ist eh schon alles wurscht. Lies dir’s nur durch! Damit du weißt, was ihr Männer für Haderlumpen seid!“ Sie setzte sich wieder hin, nahm ihr Schnapsstamperl und stürzte den Inhalt in einem Zug hinunter.
Gasperlmaier zögerte, das blaue Band zu öffnen. „Lies nur!“, forderte die Mutter ihn nochmals auf, mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Gasperlmaier zog das Buch zu sich heran. Es war ein wenig größer als ein kleines Schulheft. Der Rücken war wohl einmal schwarz gewesen, an vielen Stellen aber war das schwarze Deckpapier abgerissen. Darunter kam graue Pappe zum Vorschein. Er löste die Masche und schlug das Buch auf. Es war mit Notizen in einer Handschrift beschrieben, die Gasperlmaier nur mit Mühe entziffern konnte, die Tinte war ausgebleicht und nur mehr blassblau. Es war offensichtlich ein Tagebuch, denn über jedem Eintrag stand ein Datum. Der erste Eintrag stammte vom 12. März 1959. Gasperlmaier versuchte zu lesen, konnte jedoch ohne seine Lesebrille kaum etwas entziffern.
Die Mutter saß ihm stumm gegenüber, als er seine Brille aus der Innentasche seiner Jacke holte. „Schau’s dir nur genau an!“, sagte sie, als er das Buch wieder zur Hand nahm. Die Stimme der Mutter hatte etwas Drohendes. So, als ob er etwas dafür konnte, wenn der Voglreiter Friedl Schlimmes widerfahren war. Damals, als dieses Tagebuch geschrieben worden war, hatte er ja noch nicht einmal gelebt, konnte also auf keinen Fall etwas angestellt haben. Was die Mutter nur hatte?
Gasperlmaier blätterte vorsichtig durch die Seiten. Wo immer er zu lesen begann, war in einem etwas umständlichen, blumigen Stil nur von höchst alltäglichen Dingen die Rede. Was die Friedl angezogen hatte, was ihr gefiel oder nicht gefiel, was sie anziehen hatte müssen, weil es die Mutter befohlen hatte, was sie gerne zum Anziehen gehabt hätte, aber nicht bekam, weil entweder das Geld nicht reichte oder die Eltern es für unnötig befanden. Alles recht uninteressant, dachte Gasperlmaier. Was Mädchen halt so beschäftigte, wenn ihnen fad war. Auf der anderen Seite wurde durch viele der Eintragungen aber doch klar, wie anders das Leben der Jugendlichen damals gewesen sein musste. Von Konsumwahn keine Spur. Seine Kinder, vor allem die Katharina, sollten das einmal lesen. Nichts hatten die Kinder damals gehabt, rein gar nichts!
„Lies einmal den 16. August!“, forderte ihn die Mutter mit scharfer Stimme auf. Gasperlmaier schrak hoch und blätterte hastig weiter. Etwa in der Mitte des Buches fand er das Datum,
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