Letzte Ehre
war gerade auf dem Treppenabsatz angelangt.
»Kann ich Ihnen helfen?« fragte ich.
»Ist Bucky hier oben?« Er bekam langsam eine Glatze, und das weiße Haar um seinen Schädel war kurz geschnitten. Sanfte, haselnußbraune Augen, eine große Nase, ein Grübchen im Kinn und das Gesicht von weichen Falten durchzogen.
»Nein, er ist im Moment nicht da. Sind Sie Chester?«
Er murmelte: »Nein, Ma’am.« Sein Verhalten ließ vermuten, daß er in diesem Moment die Mütze gezogen hätte, wenn er eine getragen hätte. Er lächelte schüchtern und entblößte dabei eine kleine Spalte zwischen seinen beiden Vorderzähnen. »Ich heiße Ray Rawson. Ich bin ein alter Freund von Johnny... äh, bevor er gestorben ist.« Er trug Chinos, ein sauberes weißes T-Shirt und Tennisschuhe mit weißen Socken.
»Kinsey Millhone«, stellte ich mich vor. Wir schüttelten uns die Hände. »Ich wohne hier unten ganz in der Nähe.« Meine Geste war vage, vermittelte aber die ungefähre Richtung.
Rays Blick ging an mir vorbei in die Wohnung. »Haben Sie eine Ahnung, wann Bucky wieder da ist?«
»Gegen eins, hat er gesagt.«
»Möchten Sie sie mieten?«
»O Gott, nein. Sie?«
»Tja, ich hoffe darauf«, sagte er. »Wenn ich Bucky dazu überreden kann. Ich habe schon eine Anzahlung geleistet, aber er hält mich hin, was den Mietvertrag angeht. Ich weiß nicht, wo das Problem liegt, aber ich habe Angst, daß er sie mir unter den Fingern weg weitervermietet. Als ich diese ganzen Kisten gesehen habe, dachte ich einen Moment lang, Sie würden einziehen.« Der Typ hatte einen Südstaaten-Akzent, den ich nicht genau einordnen konnte. Vielleicht Texas oder Arkansas.
»Ich glaube, Bucky möchte die Wohnung ausräumen. Waren Sie derjenige, der angeboten hat, für einen Mietnachlaß den ganzen Kram wegzuschaffen?«
»Nun, ja, und ich dachte, er würde darauf eingehen, aber jetzt, seit sein Vater hier ist, hecken die beiden andauernd etwas Neues aus. Zuerst haben Bucky und seine Frau beschlossen, in diese Wohnung zu ziehen und statt dessen das Haus zu vermieten. Dann sagte sein Vater, er wolle die Wohnung dafür haben, wenn er zu Besuch käme. Ich möchte ja nicht drängen, aber ich hatte gehofft, im Laufe dieser Woche einziehen zu können. Ich wohne in einem Hotel... nichts Nobles, aber es summiert sich.«
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, aber das müssen Sie mit ihm ausmachen.«
»Oh, ich weiß, daß es nicht Ihr Problem ist. Ich wollte es nur erklären. Vielleicht schaue ich nochmal rein, wenn er zurück ist. Ich wollte nicht stören.«
»Sie stören nicht. Kommen Sie doch herein, wenn Sie möchten. Ich sehe nur gerade ein paar Kisten durch«, sagte ich. Ich setzte mich wieder auf meinen Stuhl, hob ein Buch in die Höhe und blätterte die Seiten durch.
Ray Rawson betrat den Raum mit ebensoviel Vorsicht wie eine Katze. Ich schätzte ihn auf einsfünfundsiebzig, gut achtzig Kilo, mit für einen Mann seines Alters stattlichem Brustkorb und Bizeps. An einem Arm trug er eine Tätowierung mit dem Wort »Maria« zur Schau; am anderen einen Drachen auf den Hinterbeinen, der die Zunge herausstreckte. Er sah sich interessiert um und musterte die Anordnung der Möbel. »Schön, die Wohnung wiederzusehen. Nicht so groß, wie ich sie in Erinnerung habe. Das Gedächtnis spielt einem manchmal Streiche, nicht wahr? Ich hatte mir... ich weiß nicht was... mehr Stellfläche an den Wänden oder sowas ausgemalt.« Er lehnte sich an das Bettgestell und sah mir beim Arbeiten zu. »Suchen Sie etwas?«
»Mehr oder weniger. Bucky hofft, irgendwelche Daten über Johnnys Militärzeit zu finden. Ich bin der Durchsuchungs- und Beschlagnahmungstrupp. Waren Sie vielleicht zufällig mit ihm bei der Air Force?«
»Nee. Wir haben uns bei der Arbeit kennengelernt. Wir waren damals beide auf einer Werft beschäftigt — bei den Jefferson Boat Works bei Louisville, Kentucky. Das war vor langer Zeit, kurz nach Kriegsbeginn. Wir haben LST-Landungsboote gebaut. Ich war zwanzig. Er war zehn Jahre älter und in gewisser Weise wie ein Vater für mich. Das war die Zeit des Aufschwungs. Während der Depression — früher, um 1932 — strichen die meisten Männer nicht einmal einen Riesen pro Jahr ein. Stahlarbeiter verdienten nur halb soviel, weniger als Kellnerinnen. Damals, als ich zu arbeiten anfing, ging es wirklich aufwärts. Natürlich ist alles relativ, und was wußten wir schon? Johnny machte alles mögliche. Er war ein kluger Kopf und brachte mir vieles bei. Kann
Weitere Kostenlose Bücher