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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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Testamente und Nachlässe bearbeitete. Brauchte sie eine Privatdetektivin? Wollte sie mich in Sachen Treuhandverwaltung beraten?
    »Hör mal, meine Liebe. Ich rufe an, weil wir hoffen, daß wir dich dazu überreden können, nach Lompoc heraufzukommen und Thanksgiving mit uns zu verbringen. Die ganze Familie wird da sein, und wir dachten, daß es eine nette Gelegenheit wäre, um sich kennenzulernen.«
    Ich merkte, wie sich meine Stimmung verdüsterte. Ich hatte null Interesse an diesem Familientreffen, beschloß jedoch, höflich zu sein. Ich versah meine Stimme mit einem unechten Unterton des Bedauerns. »Ach, du liebe Zeit, danke, Tasha, aber da bin ich schon verplant. Gute Freunde von mir heiraten an diesem Tag, und ich bin Brautjungfer.«
    »An Thanksgiving? Das ist aber merkwürdig.«
    »Es war der einzige Termin, an dem sie es einrichten konnten«, sagte ich und dachte ha ha hi hi.
    »Wie wär’s mit Freitag oder Samstag an dem Wochenende?« schlug sie vor.
    »Ah.« Mir fiel rein gar nichts ein. »Mmm... ich glaube, da habe ich zu tun, aber ich könnte mal nachsehen«, sagte ich. In beruflichen Angelegenheiten bin ich eine hervorragende Lügnerin. Im privaten Bereich bin ich genauso phantasielos wie jeder andere. Ich griff nach meinem Kalender und wußte genau, daß nichts darin stand. Einen Sekundenbruchteil lang spielte ich mit dem Gedanken, »ja« zu sagen, doch in meinem Innersten erhob sich instinktives Protestgeheul. »O je. Nein, da kann ich nicht.«
    »Kinsey, ich kann deinen Widerwillen spüren, und ich muß dir sagen, wie leid uns das allen tut. Der Streit zwischen deiner Mutter und Grand hatte doch mit dir nichts zu tun. Wir würden es gern wiedergutmachen, wenn du uns läßt.«
    Ich merkte, wie meine Augäpfel nach oben rollten. So sehr ich gehofft hatte, dieser Sache zu entgehen, mußte ich mich ihr nun stellen. »Tasha, das ist lieb, und es freut mich, daß du das sagst, aber es wird nicht funktionieren. Ich weiß nicht, was ich dir sonst sagen soll. Die Vorstellung, dort hinaufzufahren, ist mir sehr unangenehm, noch dazu an einem Feiertag.«
    »Oh, wirklich? Warum das?«
    »Ich weiß nicht, warum. Ich habe keine Erfahrung mit Familie, und daher ist das auch nichts, was mir fehlen würde. So ist es nun mal.«
    »Möchtest du nicht deine anderen Cousinen kennenlernen?«
    »Ah, Tasha, ich hoffe, das klingt jetzt nicht grob, aber bislang sind wir auch gut ohne einander ausgekommen.«
    »Woher willst du wissen, ob du uns nicht mögen würdest?«
    »Das würde ich vermutlich sogar«, sagte ich. »Darum geht es nicht.«
    »Worum dann?«
    »Zum einen sind Gruppen nicht mein Fall, und außerdem bin ich nicht besonders scharf darauf, bedrängt zu werden«, erklärte ich.
    Schweigen. »Hat das etwas mit Tante Gin zu tun?« wollte sie wissen.
    »Tante Gin? Überhaupt nicht. Wie kommst du darauf?«
    »Wir haben gehört, daß sie exzentrisch war. Ich gehe vermutlich davon aus, daß sie dich irgendwie gegen uns aufgehetzt hat.«
    »Wie das? Sie hat euch kein einziges Mal auch nur erwähnt .«
    »Findest du nicht, daß das seltsam war?«
    »Natürlich ist es seltsam. Paß auf, Tante Gin hielt viel von Theorie, aber sie war offenbar nicht sonderlich erpicht auf menschliche Kontakte. Das soll keine Beschwerde sein. Sie hat mir vieles beigebracht, und vieles davon wußte ich sehr zu schätzen, aber ich bin nicht wie andere Leute. Offen gesagt, ist mir momentan meine Unabhängigkeit lieber.«
    »Das ist doch Schwachsinn. Das glaube ich dir nicht. Wir bilden uns alle gern ein, wir wären unabhängig, aber kein Mensch lebt isoliert. Wir sind eine Familie. Du kannst die Verwandtschaft nicht leugnen. Sie ist eine Tatsache. Du gehörst zu uns, ob es dir paßt oder nicht.«
    »Tasha, laß uns mal Klartext reden, wenn wir schon dabei sind. Es wird keine rührenden, sentimentalen Familienszenen geben. Das ist einfach nicht drin. Wir werden uns nicht zu irgendwelchen nostalgischen Singrunden ums Klavier versammeln.«
    »So sind wir auch nicht. Wir machen so etwas nicht.«
    »Ich spreche nicht von euch. Ich versuche, dir von mir zu erzählen.«
    »Willst du denn nichts von uns?«
    »Was denn zum Beispiel?«
    »Jetzt bist du wohl wütend.«
    »Gespalten«, korrigierte ich. »Die Wut liegt ein paar Schichten tiefer. So weit bin ich noch nicht vorgedrungen.«
    Sie schwieg einen Moment lang. »In Ordnung. Das akzeptiere ich. Ich verstehe deine Reaktion, aber warum willst du es an uns auslassen? Wenn Tante Gin >unzulänglich< war,

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