Letzte Ehre
ist der Junge nicht der hellste.«
Ich war ganz seiner Meinung, hielt es aber für diplomatisch, in diesem Fall meinen Mund zu halten. Ich ging wieder ins große Zimmer, holte meine Schultertasche und schlang mir den Riemen über die Schulter. Dann zerrte ich den Schlüssel aus meiner Hosentasche. Ray verließ die Wohnung direkt vor mir und wartete auf der Treppe unter mir, während ich abschloß. Danach folgte ich ihm die Stufen hinunter, und wir gingen gemeinsam die Einfahrt entlang bis zur Straße. Ich machte einen raschen Umweg über die Veranda, wo ich den Schlüssel in den Briefschlitz in der Mitte der Haustür steckte. Ich gesellte mich wieder zu ihm, und als wir auf der Straße angelangt waren, begann er in die entgegengesetzte Richtung zu gehen.
»Danke für die Hilfe. Ich hoffe, Sie und Bucky werden sich einig.«
»Das hoffe ich auch. Wiedersehen.« Er winkte kurz und ging davon.
Als ich zu Hause ankam, stand Henrys Küchentür offen, und ich vernahm Stimmengewirr, was bedeutete, daß Nell, Charlie und Lewis da waren. Noch vor Ende des Tages würden sie sich in Scrabble und Binokel, Halma und Schwarzer Peter vertiefen und sich wie Kinder beim Mensch-ärgere-dich-nicht streiten.
Als ich endlich meine Wohnung betrat, war es fast elf Uhr. Das Signallämpchen an meinem Anrufbeantworter blinkte, und ich drückte auf die Abspieltaste. »Kinsey? Hier ist deine Cousine Tasha aus Lompoc. Könntest du mich zurückrufen?« Sie hinterließ eine Telefonnummer, die ich pflichtbewußt notierte. Der Anruf war vor fünf Minuten gekommen.
Das verhieß nichts Gutes, dachte ich mir.
Im Alter von achtzehn Jahren hatte sich meine Mutter von ihrer wohlhabenden Familie gelöst, als sie gegen die Wünsche meiner Großmutter rebellierte und mit einem Briefträger davonlief. Im Beisein meiner Tante Gin, der einzigen ihrer Schwestern, die es wagte, sich auf ihre Seite zu stellen, heirateten sie und mein Vater vor einem Richter in Santa Teresa. Sowohl meine Mutter als auch Tante Gin waren aus der Familie ausgestoßen worden, eine Isolation, die noch anhielt, als ich fünfzehn Jahre später zur Welt kam. Meine Eltern hatten bereits jede Hoffnung auf Nachwuchs aufgegeben, doch mit meiner Geburt wurden wieder zaghafte Kontakte zu den übrigen Schwestern geknüpft, welche die wiederaufgenommenen Gespräche geheimhielten. Als meine Großeltern anläßlich ihres Hochzeitstags auf einer Kreuzfahrt waren, fuhren meine Eltern zu Besuch nach Lompoc. Ich war damals vier und erinnere mich nicht daran. Ein Jahr später, als wir zu einem anderen heimlichen Treffen in Richtung Norden unterwegs waren, kam ein Felsbrocken den Berg heruntergerollt, zertrümmerte unsere Windschutzscheibe und tötete meinen Vater auf der Stelle. Das Auto kam von der Straße ab, und meine Mutter erlitt schwere Verletzungen. Sie starb kurz darauf, während die Sanitäter noch damit beschäftigt waren, uns aus dem Wrack herauszuholen.
Danach wurde ich von Tante Gin aufgezogen, und soweit ich weiß, gab es keine weiteren Kontakte zur Familie. Tante Gin hatte nie geheiratet, und ich wurde aufgrund ihrer etwas merkwürdigen Vorstellungen erzogen, wie ein kleines Mädchen zu sein hatte. Infolgedessen bin ich zu einem etwas seltsamen Wesen geworden, obwohl ich nicht annähernd so »verdreht« bin, wie manche Leute glauben mögen. Seit dem Tod meiner Tante vor ungefähr zehn Jahren habe ich mit meinem einsamen Status Frieden geschlossen.
Ich hatte vor einem Jahr im Zuge von Ermittlungen von meinen »lange verschollenen« Verwandten erfahren und es bislang geschafft, sie mir vom Leib zu halten. Die bloße Tatsache, daß sie eine Beziehung wollten, verpflichtete mich zu nichts. Ich gebe zu, daß ich auf die Angelegenheit vielleicht ein wenig schlecht zu sprechen war, aber ich konnte es nicht ändern. Ich bin fünfunddreißig Jahre alt, und mein Waisenstatus ist mir ganz recht. Außerdem — wenn man in meinem Alter »adoptiert« wird, woher soll man da wissen, daß sie nicht bald ernüchtert sein und einen wieder verstoßen werden?
Ich nahm das Telefon und wählte Tashas Nummer, bevor ich Zeit hatte, mich aufzuregen. Sie meldete sich, und ich sagte, wer ich war.
»Danke, daß du so schnell zurückrufst. Wie geht’s dir?« sagte sie.
»Mir geht’s gut«, antwortete ich und versuchte herauszufinden, was sie von mir wollte. Ich war ihr nie begegnet, doch während eines vorhergegangenen Telefongesprächs hatte sie mir erzählt, daß sie Anwältin für Erbrecht war und
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