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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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meinen Aufzug an. Hat mir ja niemand gesagt, daß ihr kommt, und jetzt habt ihr mich in diesem alten Ding ertappt.« Laura umarmte und küßte sie und hielt sich seitwärts, um die auffällige Wölbung ihres Bauchgurtes zu verbergen.
    Rays Mutter schien es ohnehin nicht zu bemerken. »Laß dich mal ansehen.« Sie legte eine Hand auf jede Seite von Lauras Gesicht und studierte es gewissenhaft. »Ich wünschte, ich könnte dich besser sehen, Kind, aber ich glaube, du schlägst nach deinem Großvater Rawson. Bei meiner Seele. Wie lange ist es schon her?« Tränen liefen ihr die Wangen hinunter, und schließlich zog sie sich die Schürze vors Gesicht, um ihre Verlegenheit zu verbergen. Dann fächelte sie sich Luft zu und schüttelte ihre Emotionen ab. »Was ist nur mit mir los? Kommt jetzt rein hier, ihr alle. Sohn, das werde ich dir nie verzeihen, daß du nicht vorher angerufen hast. Ich sehe schrecklich aus. Im Haus sieht’s schrecklich aus.«
    Wir marschierten in den Flur. Zuerst Laura, dann Ray und ich am Schluß. Wir blieben stehen, während die alte Frau die Türen wieder zusperrte. Mir fiel auf, daß niemand ihren Vornamen genannt hatte. Zur Rechten war die schmale Stiege, die zu dem Schlafzimmer im ersten Stock hinaufführte und die sogar zu dieser Tageszeit im Dunkeln lag. Zur Linken befand sich die Küche, die der einzige beleuchtete Raum zu sein schien. Da die Häuser so nah beieinander standen, gelangte nur wenig Tageslicht bis hierher. Es gab nur ein einziges Küchenfenster, und zwar an der gegenüberliegenden Wand oberhalb einer Spüle aus Porzellan und Gußeisen. Ein großer Eichentisch mit vier nicht zusammenpassenden hölzernen Stühlen, über dem eine nackte Glühbirne hing, nahm die Mitte des Raums ein. Die Glühbirne muß allerdings eine Stärke von 250 Watt besessen haben, da das Licht, das sie verströmte, nicht nur blendete, sondern auch die Raumtemperatur um mindestens zehn Grad erhöht hatte.
    Der alte Herd war aus grünem Email mit schwarzen Kanten und besaß vier Gasbrenner und eine Abdeckklappe. Zur Linken der Tür stand ein Eastlake-Schränkchen mit einer ausziehbaren Blechplatte und eingebautem Mehlbehältnis und — sieb. Ich spürte, wie eine Welle der Erinnerung auf mich zurollte. Irgendwo hatte ich einen solchen Raum schon einmal gesehen, vielleicht in Grands Haus in Lompoc, als ich vier Jahre alt war. Vor meinem geistigen Auge sah ich immer noch die Waren auf den Borden vor mir: die Wachspapierschachtel der Marke Cut-Rite, der zylindrische, dunkelblaue Morton-Salzbehälter mit dem Mädchen unter dem Schirm (»Immer vom Regen in die Traufe«), Sanka-Kaffee in einer niedrigen orangefarbenen Dose, Malzkaffee und die Büchse mit Hershey’s Kakao. Mrs. Rawsons Speiseschrank war fast mit den gleichen Waren bestückt, bis hin zu dem undurchsichtigen, minzgrünen Glas, das die Aufschrift Zucker trug. Die beiden zusammenpassenden überdimensionalen Salz- und Pfefferstreuer mit den Schraubdeckeln standen direkt daneben.
    Rays Mutter war gerade dabei, gegen Rays Einspruch Stapel von Zeitungen von den Küchenstühlen zu entfernen. »Also, Ma, jetzt komm schon. Das brauchst du nicht zu machen. Gib mir das.«
    Sie versetzte ihm einen Klaps auf die Hand. »Finger weg. Ich kann das selbst. Wenn du mir gesagt hättest, daß du kommst, hätte ich das Haus in Schuß gebracht. Laura wird denken, ich wüßte nicht, wie man einen Haushalt führt.«
    Er nahm ihr ein Bündel Zeitungen ab und legte sie in einem unordentlichen Stapel an die Wand. Laura murmelte etwas, entschuldigte sich und ging ins Hinterzimmer. Ich hoffte, daß eine Toilette in der Nähe war, die ich in Bälde aufsuchen konnte. Ich zog mir einen Stuhl heran, setzte mich und betrieb ein bißchen visuelles Schnüffeln, während Ray und seine Mutter aufräumten.
    Von meinem Platz aus konnte ich einen Teil des Eßzimmers mit seinen eingebauten Geschirrschränken einsehen. Der Raum war mit Plunder vollgestellt, und Möbel und Pappkartons erschwerten ein Durchkommen. Ich entdeckte ein altes braunes Radio mit Holzgehäuse, ein Zenith mit einer runden Skala, eingelassen in eine Musiktruhe mit abgerundeten Kanten, die so groß war wie eine Kommode. Ich konnte die runde Form des Lautsprechers an der Stelle ausmachen, wo sich der abgeschabte Stoff über ihn spannte. Das Tapetenmuster war ein Wunder aus wirbelnden braunen Blättern.
    Der Raum hinter dem Eßzimmer mit seinen zwei Fenstern zur Straße und der eigenen Eingangstür war vermutlich der Salon.

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