Letzte Ehre
In der Küche roch es wie eine Mischung aus Mottenkugeln und starkem Kaffee, der zu lang auf dem Herd gestanden hatte. Ich hörte das Rauschen der Wasserleitung und den Spülmechanismus, der an einen Wasserfall aus großer Höhe gemahnte. Als Laura kurz darauf aus dem hinteren Zimmer zurückkam, hatte sie ihren Bauchgurt abgeschnallt. Vermutlich war es ihr unangenehm, ihrer Großmutter ihren »Zustand« erklären zu müssen, falls sie es bemerkte.
Ich hörte der alten Frau zu, die immer noch gutmütig über den unerwarteten Besuch murrte. »Ich weiß nicht, wie ich euch ohne irgendwelche Zutaten im Haus ein Essen kochen soll.«
»Also, ich sage dir, wie«, meinte Ray geduldig. »Du stellst eine Liste mit allem, was du brauchst, zusammen, und wir sausen zum Supermarkt hinüber und sind im Nu wieder da.«
»Ich habe schon eine Liste geschrieben, wenn ich sie nur wiederfinde«, sagte sie und wühlte sich durch einzelne Zettel, die in der Mitte des Tisches lagen. »Freida Green, meine Nachbarin zwei Häuser weiter, nimmt mich einmal die Woche zum Supermarkt mit, wenn sie hingeht. Da ist sie. Was steht da?«
Ray nahm die Liste zur Hand und las in gekünsteltem Ton vor: »Da steht Schweinekoteletts mit Milchsauce, Süßkartoffeln, gebratene Äpfel und Zwiebeln, Maisbrot...«
Sie griff nach dem Zettel, aber er hielt ihn außer Reichweite. »Niemals. Stimmt nicht. Laß mal sehen. Möchtest du das haben, Sohn?«
»Ja, Ma’am.« Er reichte ihr den Zettel.
»Hm, das kann ich machen. Süßkartoffeln habe ich draußen, und ich glaube, ich habe noch Stangenbohnen und geschmorte Tomaten, die ich letzten Sommer eingemacht habe. Außerdem habe ich gerade ein Blech Erdnußbutterplätzchen gebacken. Die können wir zum Nachtisch essen, wenn du einen Liter Vanilleeis mitbringst. Aber echtes. Ich will keine gefrorene Milch.« Sie schrieb, während sie sprach und große, eckige Buchstaben auf das Blatt malte.
»Klingt gut. Was meinen Sie, Kinsey?« fragte er.
»Klingt toll.«
»Ach, du meine Güte. Kinsey. Ich schäme mich für meine schlechten Manieren. Ich habe Sie ganz vergessen, Herzchen. Was kann ich Ihnen anbieten? Ich müßte hier irgendwo noch eine Dose Limonade haben. Sehen Sie mal in der Speisekammer nach, aber achten Sie nicht darauf, wie es dort aussieht. Ich wollte sie eigentlich putzen, bin aber nicht dazu gekommen.«
»Eigentlich würde ich gern Ihr Telefon benutzen und Sie um einen Zettel und einen Stift bitten, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Gehen Sie nur und telefonieren Sie, solange Sie nicht in Paris in Frankreich anrufen. Ich habe ein begrenztes Einkommen, und dieses Telefon ist ohnehin schon so teuer. Da haben Sie einen Zettel. Laura, zeig ihr doch, wo das Telefon steht. Gleich da drin, neben dem Bett. Ich mache mal mit dieser Liste weiter.«
Ray sagte: »Ich habe ihr außerdem versprochen, daß sie ein paar Kleider in die Waschmaschine werfen kann. Hast du Waschmittel da?«
»In der Waschküche«, sagte sie und wies auf eine Tür.
Ich nahm Stift und Papier entgegen und ging ins Schlafzimmer, das so muffig war wie ein Schrank voller Mäntel. Die einzige Beleuchtung drang aus einem kleinen Badezimmer, das sich zur Linken öffnete. Schwere Vorhänge waren vor den Fenstern mit ihren bereits herabgezogenen Jalousien zusammengesteckt worden. Die Doppelbettmatratze sackte in einem eisernen Bettgestell zusammen, auf dem sich handgearbeitete Quilts stapelten. Das Zimmer wäre für das Diorama einer Wohnungseinrichtung der vierziger Jahre auf der Landesausstellung ideal gewesen. Sämtliche Oberflächen waren von einer feinen Staubschicht überzogen. Eigentlich wirkte nichts in diesem Haus besonders sauber, vermutlich eine Nebenerscheinung der mangelnden Sehkraft der alten Frau.
Das alte schwarze Wählscheibentelefon stand neben einer Lampe mit gebogenem Hals auf dem Nachttisch, umgeben von Großdruckbüchern, Pillenfläschchen, Cremes und Salben. Ich schaltete die Lampe an und wählte die Auskunft, von der ich mir die Nummern von United und American Airlines geben ließ. Zuerst rief ich bei United an und lauschte den üblichen Versicherungen, daß »mein Anruf in der Reihenfolge seines Eingangs entgegengenommen« würde. Aus Respekt vor Rays Mutter unterließ ich es, ihren Nachttisch zu durchsuchen, während ich darauf wartete, daß sich am anderen Ende jemand meldete. Allerdings musterte ich auf der Suche nach dem Bauchgurt den Raum. Er mußte hier irgendwo sein.
Schließlich nahm sich jemand meiner an
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