Letzte Ehre
niedermacht. Warum machst du es dann nicht besser und schaffst eine freundlichere Stimmung, anstatt dich genau wie er zu verhalten?«
Laura sagte nichts. Ray studierte ihr Profil und blickte schließlich wieder auf die Straße.
Das Schweigen dehnte sich beklemmend aus, und ich merkte, wie ich mich wand. »Wie weit ist es noch?«
»Ungefähr anderthalb Stunden. Wie geht’s Ihnen da hinten?«
»Mir geht’s gut«, sagte ich.
Wir kamen kurz vor zwölf Uhr mittags in Louisville an und näherten uns der Stadt auf dem Highway 65. Ich konnte den Flughafen zu unserer Linken sehen und hätte vor Sehnsucht beinahe gewinselt. Wir bogen auf einen anderen Highway in Richtung Westen ab und fuhren durch einen Stadtteil namens Shively, wobei wir am größten Teil des Geschäftsviertels in der Innenstadt vorbeikamen. Zu unserer Rechten konnte ich zahlreiche hohe Gebäude sehen, robuste Betonklötze, von denen die meisten viereckig zuliefen. Vor uns lag der Ohio, an dessen anderem Ufer man Indiana sehen konnte.
Wir fuhren in einem Viertel namens Portland ab. Hier war Ray Rawson aufgewachsen. Ich sah, wie sein Lächeln breiter wurde, als er die Gegend betrachtete. Er drehte sich halb zu mir um und schlang die Arme um die Sitzlehne. »Dort unten ist der Portland-Kanal. Die Schleusen sind vor hundert Jahren gebaut worden, um den Schiffsverkehr an den Wasserfällen vorbeizubringen. Mein Urgroßvater hat beim Bau mitgearbeitet. Ich führe Sie hin, wenn wir die Zeit dazu haben.«
Ich war mehr daran interessiert, einen Flug zu bekommen, als irgendwelche lokalen Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, aber ich wußte, daß das Angebot seiner Begeisterung darüber entsprang, nach Hause zu kommen. Nachdem er den größten Teil der letzten fünfundvierzig Jahre inhaftiert gewesen war, fühlte er sich vermutlich wie Rip van Winkle, der sich über all die Veränderungen auf der ganzen Welt wundert. Es mochte ein Trost sein, daß sein gesamtes Viertel vom Lauf der Zeit unberührt geblieben zu sein schien. Die Straßen waren breit, und die Bäume trugen die letzten Überreste des Herbstlaubs. Die meisten waren bereits kahl, doch einen Block weiter konnte ich noch vereinzelte Farbtupfer an den Zweigen erkennen. In der Straße, auf die wir nach der Abfahrt vom Highway eingebogen waren, hatte man viele Vorderhäuser zu Geschäften umgewandelt: Schilder warben für eine Kindertagesstätte, einen Friseursalon und einen Anglerladen. Die Vorgärten waren gleichförmig klein und flach und voneinander durch Maschendrahtzäune mit klapperigen Toren getrennt. Herabgefallene Blätter, die aussahen wie braune Papierfetzen, verstopften die Dachrinnen und lagen auf den Gehwegen verstreut. Zehn und zwölf Jahre alte Autos parkten am Straßenrand. Ältere Modelle standen in Einfahrten und trugen »Zu verkaufen«-Schilder an den Windschutzscheiben. Es gab mehr Telefonmasten als Bäume, und die Drähte zogen sich kreuz und quer über die Straßen, wie Schnüre für Zelte, die noch nicht aufgestellt worden waren. Am Ende einer Seitenstraße konnte ich Eisenbahnwaggons auf einem Nebengleis stehen sehen.
Ich hätte Geld darauf verwettet, daß das Viertel seit den vierziger Jahren so aussah. Es gab keine Baustellen, keinen Hinweis darauf, daß irgendwelche Altbauten abgerissen worden waren. Büsche wucherten. Die Baumstämme waren massiv und verdunkelten Fenster und Veranden, wo einst die überhängenden Zweige lediglich Halbschatten gespendet hatten. Gehwege hatten sich aufgeworfen, von Wurzeln durchbrochen. Vierzig Jahre lang hatten die Unbilden des Wetters an manchen Häuserverkleidungen aus Asphalt genagt. Hier und da konnte ich frische Farbe erkennen, aber ich vermutete, daß sich in den Jahren, seit Ray hier gelebt hatte, nicht viel verändert hatte.
Als wir vor dem Haus seiner Mutter vorfuhren, senkte sich ein Gefühl der Bedrücktheit auf mich herab. Es war wie die tiefe, dröhnende Note in der Partitur für einen Horrorfilm, der Mollakkord, der eine dunkle Gestalt im Wasser ankündigt oder etwas Unbekanntes, das in den Schatten hinter der Kellertür lauert. Das Gefühl war vermutlich nichts als eine simple Depression, gewachsen aus geliehenen Kleidern, schlechtem Essen und unregelmäßigem Schlaf. Woher es auch immer stammte, ich wußte, daß es noch Stunden dauern würde, bis ich mich in ein Flugzeug nach Kalifornien setzen konnte.
Laura stellte den Motor des Mietwagens ab und stieg aus. Ray kam auf seiner Seite heraus und musterte staunend die Fassade
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