Letzte Ehre
Als ich sechzig wurde, hat die Haftbehörde begonnen, mir den harten Vollzug abzugewöhnen. Mein Sicherheitsniveau ist immer weiter gefallen, bis ich den Bau verlassen durfte. Ich wurde zurück in die FCI Ashland überstellt. Das war vielleicht ein Erwachen. Fünfunddreißig Jahre war es her, seit ich den Schuppen zuletzt gesehen hatte, und dann steh’ ich Knilchen gegenüber, die genauso alt sind, wie ich es war, als ich zum ersten Mal verknackt wurde. Mit einem Mal >kapier< ich es, verstehen Sie? Als hätte ich den großen Durchblick. Ich habe mich innerhalb eines Jahres komplett verändert, habe meinen Schulabschluß nachgemacht und angefangen, Collegekurse zu belegen. Dann habe ich begonnen, mich um mich selbst zu kümmern, habe das Rauchen aufgegeben, angefangen, Gewichte zu heben und so. Hab’ mich aufgemöbelt. Dann bin ich noch einmal vor die Bewährungskommission getreten und bekam einen Teil der Haftzeit erlassen.«
Ray hielt inne, um die Jugendlichen um uns herum zu betrachten. Sie drängten sich in Nischen und an Tischen, an die sie weitere Stühle herangezogen hatten. Die Speisekarten wan-derten über ihren Köpfen von Hand zu Hand, während das Rauschen unermüdlichen Lachens in Wellen über sie hinwegschwappte. Es war ein Geräusch, das ich mochte, energiegeladen, unschuldig. Ray schüttelte den Kopf. »Die Kids sind auf meinem Stockwerk, ungefähr zwei Zimmer weiter. Mein Gott, das Gekreische und Getrample die Flure auf und ab. Bis spät in die Nacht hinein.«
»Haben Sie noch Kontakt zu Maria?«
»Ab und zu. Sie hat wieder geheiratet. Soweit ich zuletzt gehört habe, lebt sie noch irgendwo in Louisville. Ich würde gern hinfahren und sie besuchen, sobald ich hiermit fertig bin. Ich möchte auch meine Tochter sehen und alles wieder gutmachen. Ich weiß, daß ich kein guter Vater war — ich war zu sehr damit beschäftigt, Mist zu bauen — , aber ich würde es gern versuchen. Auch meine Mutter möchte ich wiedersehen.«
»Ihre Mutter lebt noch?«
»Klar. Sie ist fünfundachtzig, aber unglaublich zäh.«
»Nicht, daß es mich etwas anginge, aber wie alt sind Sie?«
»Fünfundsechzig. Alt genug, um in Rente zu gehen, wenn ich je einen richtigen Job gehabt hätte.«
»Sie sind also erst vor kurzem entlassen worden«, sagte ich.
»Vor ungefähr drei Wochen. Nach Ashland habe ich noch ein halbes Jahr in einer Resozialisierungseinrichtung verbracht. Sowie ich rauskam, bin ich zur Küste gefahren. Ich habe Johnny im April geschrieben und ihm meinen Entlassungstermin mitgeteilt. Er sagte, ich solle ruhig kommen, er würde mir helfen. Und das habe ich auch gemacht. Der Rest ist genau so, wie ich Ihnen schon gesagt habe. Ich wußte nicht, daß er tot war, bis ich an Buckys Tür geklopft habe.«
»Inwiefern wollte Johnny Ihnen helfen?«
Rawson zuckte die Achseln. »Unterkunft. Eine Partnerschaft. Er hatte ein paar Ideen für ein kleines Geschäft, das wir betreiben könnten. Ich habe im Knast gearbeitet — jeder körperlich dazu fähige Häftling arbeitet — , aber ich habe nur vierzig Cents in der Stunde verdient, von denen ich mir Schokoriegel, Limonade, Deo und solches Zeug selbst kaufen mußte, so daß ich mir nichts auf die hohe Kante legen konnte.«
»Wie haben Sie die Reise hierher bezahlt?«
»Meine Mutter hat mir das Geld geliehen. Ich habe gesagt, ich würde es ihr zurückzahlen.«
»Wer ist der Kerl, der in Johnnys Wohnung eingebrochen ist?«
»Er heißt Gilbert Hays und ist ein früherer Zellengenosse von mir. Vor ein paar Jahren waren wir zusammen eingebuchtet. Ich habe meine blöde Schnauze aufgerissen, weil ich diesen Dreckskerl beeindrucken wollte. Fragen Sie mich nicht, weshalb. Er ist ein derart mieses Stück Scheiße, daß ich mich immer noch in den Hintern beißen könnte.« Seine Grimasse ließ den Riß in seiner Unterlippe aufplatzen. Ein Faden Blut quoll hervor. Er preßte sich eine Papierserviette auf den Mund.
»Die Schnauze worüber aufgerissen?«
»Passen Sie auf, wir sitzen also im Knast. Was haben wir denn schon groß zu tun, außer uns gegenseitig wilde Storys zu erzählen? Er prahlte andauernd mit irgendwas herum, und so habe ich ihm von Johnny erzählt. Der gute Mann war ein Geizkragen und hat ständig Geld beiseite geschafft. Johnny hat es nicht offen gesagt, aber er hat immer wieder durchblicken lassen, daß er die dicke Kohle auf seinem Grundstück versteckt hätte.«
»Und Sie wollten es ihm abknöpfen?«
»Ich doch nicht. He, kommen Sie, das würde ich
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