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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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nach oben zu fahren, würde Ray Rawson im Zimmer anrufen und das Telefon einmal klingeln lassen. Das wäre mein Stichwort, mich davonzumachen, falls ich noch da war. Da ich genau wußte, wo der Matchsack lag, dürfte es nicht mehr als zehn Sekunden in Anspruch nehmen, den Inhalt an mich zu nehmen. Wenn Laura im zwölften Stock aus dem Aufzug käme, würde ich bereits die Feuertreppe zum achten hinabsteigen. Dort würde ich meine Straßenkleidung anziehen und mir meine Umhängetasche schnappen. Ich würde mich mit Rawson in der Hotelhalle treffen, und noch bevor Laura überhaupt merkte, daß sie bestohlen worden war, wären wir schon unterwegs zum Flughafen, wo wir den nächsten Flug nehmen würden. Es verursachte mir keinerlei Kopfzerbrechen, Diebe zu bestehlen. Nur der Gedanke daran, erwischt zu werden, ließ mein Herz pochen.
    Ich postierte meinen Karren zwei Türen von Lauras Zimmer entfernt und sah auf die Uhr. Rawson wollte seinen Anruf um 10.00 Uhr tätigen, was mir Zeit gab, mich vorzubereiten. Jetzt war es 9.58 Uhr. Ich beschäftigte mich mit einem Packen Handtücher, die ich immer wieder aufs neue zusammenlegte, da ich eifrig beschäftigt wirken wollte, wenn Laura Huckaby herauskam. Der Flur war totenstill und die Akustik so beschaffen, daß ich das Telefon klingeln hörte, als er bei ihr anrief. Der Hörer wurde nach dem zweiten Klingeln abgenommen, und deutliche Stille folgte. Ich spürte, wie mein Magen vor Spannung rumorte. Im Geiste ging ich alles durch, malte mir aus, wie sie den Flur hinab, in den Aufzug und hinüber zur Rezeption ging. Der Wortwechsel mit dem Angestellten, die Suche nach dem Päckchen, Frustration und Versicherungen, und schon käme sie zurück. Ich hätte eine Zeitspanne von mindestens fünf Minuten zur Verfügung, mehr als genug Zeit für die Aufgabe, die ich mir selbst gestellt hatte.
    Ich sah erneut auf die Uhr: 10.08 Uhr. Wozu brauchte sie so lange? Ich hätte gedacht, daß sie die Ankunft eines Päckchens wahnsinnig neugierig machen würde, erst recht, wenn es ihre Unterschrift erforderte. Was auch immer sie aufhielt, es war 10.17 Uhr, als sie herauskam. Ich hielt mein Gesicht abgewandt und wich ihrem Blick aus, als ich mein Klemmbrett zur Hand nahm und willkürliche Vermerke machte. Sie schloß die Tür hinter sich und sah mich. »Oh, hi. Erinnern Sie sich noch an mich?«
    Ich sah zu ihr hinauf. »Ja, Ma’am. Wie geht es Ihnen?« sagte ich. Ich legte das Klemmbrett beiseite und nahm ein Handtuch, das ich zusammenfaltete.
    »Haben Sie vielleicht meinen Schlüssel gesehen, als Sie gestern abend mein Zimmer aufgeräumt haben?« Sie trug ihr übliches dickes Make-up, und ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgekämmt, den sie mit einem hellgrünen Chiffonschal zusammengebunden hatte.
    »Nein, Ma’am, aber wenn er weg ist, können Sie an der Rezeption einen Ersatzschlüssel bekommen.« Ich faltete ein zweites Handtuch zusammen und legte es auf den Stapel.
    »Ich glaube, das werde ich tun«, sagte sie. »Danke. Schönen Tag noch.«
    »Ihnen auch.« Ich musterte Lauras Rückseite, als sie auf die Aufzüge zuging. Sie trug einen weißen Baumwoll-Rollkragenpulli unter einem dunkelgrünen Trägerrock aus Cordsamt, der für Umstandszwecke geschnitten gewesen sein konnte oder auch nicht. Der Saum war hinten länger als vorne. Sie zerrte an dem Kleidungsstück, das sich um ihre Leibesmitte bauschte. Dazu trug sie ihre roten Tennisschuhe mit dem hohen Schaft und heute dunkelgrüne Strümpfe. Falls meine Vermutungen zutrafen und sie das Opfer ehelicher Gewalt war, könnte das ihre Neigung erklären, sich überall zu bedecken. Ich ließ die Hand in die Tasche gleiten, wo ihr Fünf-Dollar-Trinkgeld vom Vorabend nach wie vor ordentlich gefaltet lag. Dieser Geldschein war der einzige Funken an Anerkennung, den mir meine Verkleidung als Putzfrau bisher eingebracht hatte. Ich wünschte, sie wäre nicht so freundlich gewesen. Plötzlich fühlte ich mich aufgrund dessen, was ich vorhatte, wie ein Schwein.
    Sie bog um die Ecke. Ich legte die Handtücher beiseite und holte den Schlüssel hervor. Dann geschah eine Weile gar nichts. Ich wartete darauf, daß ein Startschuß abgefeuert würde. Schließlich hörte ich, wie die Anzeige Ping machte, als der Aufzug das Stockwerk erreichte, und dann das gedämpfte Geräusch von Türen, die sich wieder schlossen. Schon bewegte ich mich auf die Tür von Zimmer 1236 zu. Ich schob den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn um und schmückte den Türknauf mit

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