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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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klingelte, hatte ich das Gefühl, als hätte ich einen tödlichen Stromschlag bekommen. Mein Herz sprang von fünfzig Schlägen in der Minute auf erstaunliche hundertvierzig, und das ohne jegliche Aktivität — abgesehen von dem Schrei, den ich ausstieß. Ich schnappte mir den Hörer, während mir der Puls in der Kehle pochte. »Was?«
    »O Jesses. Ich habe Sie aufgeweckt. Das wollte ich nicht. Hier ist Ray.«
    Ich schwang die Füße über die Bettkante, setzte mich auf und rieb mir mit einer Hand das Gesicht, um wach zu werden. »Das habe ich schon mitbekommen. Wo sind Sie?«
    »Unten in der Hotelhalle. Ich muß mit Ihnen reden. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich hinaufkomme?«
    »Ja, allerdings«, sagte ich gereizt. »Was wollen Sie hier?«
    »Auf Sie aufpassen. Ich finde, Sie sollten wissen, womit Sie es zu tun haben.«
    »Wir treffen uns in fünfzehn Minuten im Coffee Shop.«
    Ich ließ mich wieder aufs Bett fallen und blieb eine Minute liegen, während ich versuchte, mich zu sammeln. Half nicht viel. In mir rumorte es vor leisem Grauen. Schließlich schleppte ich mich ans Waschbecken, wo ich mir die Zähne putzte und mir das Gesicht wusch. Ich schnupperte an meinem Rollkragenpullover, der langsam begann, nach etwas zu riechen, das ich seit zwei Tagen trug. Eventuell müßte ich mich dazu überwinden, mir etwas Neues zu kaufen. Wenn ich meine gesamte Kleidung zum Waschen und Bügeln schickte, säße ich bis sechs Uhr abends in meiner roten Uniform fest. Wenn Laura Huckaby unterdessen aufbrach, müßte ich sie im Aufzug eines Zimmermädchens quer durch Texas verfolgen. Ich rieb mir ein bißchen Hotellotion auf die entsprechenden Körperteile und hoffte, daß die Parfümierung den reifen Geruch ungewaschener Kleidung überdecken würde.
    Ich steckte die beiden Zimmerschlüssel in meine Jackentasche — meinen und den, den ich von Laura Huckabys Tisch entwendet hatte — und äugte durch den Türspion. Wenigstens lauerte mir Rawson nicht im Flur auf. Ich ging die Feuertreppe hinunter, um den Aufzug zu umgehen, und kam auf der anderen Seite der Hotelhalle wieder heraus.
    Als ich am Coffee Shop des Hotels anlangte, blieb ich in der Tür stehen. Rawson war nicht schwer zu erkennen. Er war im ganzen Lokal der einzige Mann mit einem geschwollenen, grün-violett verfärbten Gesicht. Er hatte eine Bandage über der Nase, ein blaues Auge, eine aufgeplatzte Lippe sowie verschiedenste Schnittwunden, und drei Linger seiner rechten Hand waren mit Pflaster zusammengeklebt. Er nahm seinen Kaffee mit dem Löffel zu sich, vermutlich um sich den Schmerz zu ersparen, den abgebrochene, beschädigte oder fehlende Zähne verursachen. Sein weißes T-Shirt war so neu, daß ich noch die Lalten von der Verpackung erkennen konnte. Entweder kaufte er seine T-Shirts eine Nummer zu klein, oder er war besser gebaut als in meiner Erinnerung. Wenigstens erlaubten mir die kurzen Ärmel, seine Drachentätowierung zu bewundern.
    Ich durchquerte den Raum und ließ mich ihm gegenüber in die Nische gleiten. »Wann sind Sie hier angekommen?«
    Auf dem Tisch lagen zwei Speisekarten, von denen er mir eine reichte. »Heute morgen um halb vier. Das Flugzeug hatte Verspätung wegen Nebels. Ich habe mir am Flughafen einen Leihwagen genommen. Ich habe versucht, Sie in Ihrem Zimmer anzurufen, sowie ich angekommen war, aber die Vermittlung wollte mich nicht durchstellen, also habe ich bis acht gewartet.« Seine Augen waren von der Prügelei blutunterlaufen, was seinen ansonsten sanften Gesichtszügen einen dämonischen Anstrich verlieh. Ich konnte sehen, daß sein linkes Ohrläppchen wieder angenäht worden war.
    »Was sind Sie nur rücksichtsvoll«, sagte ich. »Haben Sie ein Zimmer?«
    »Ja, 1006.« Sein Lächeln flackerte und verschwand. »Sehen Sie, ich weiß, daß Sie keine besondere Veranlassung haben, mir zu trauen, aber es ist Zeit, mit offenen Karten zu spielen.«
    »Das hätten Sie vor zwei Tagen schon tun können, bevor wir in dieses... was auch immer geraten sind.«
    Die Bedienung erschien mit der Kaffeekanne in der Hand. Sie war der mütterliche Typ und sah aus, als würde sie streunende Hunde und Katzen aufnehmen. Ihr gekräuseltes graues Haar wurde von einem Haarnetz gehalten, das wie ein Spinnennetz über ihrem Kopf lag, und ihre rauhe Stimme ließ eine lebenslange Vorliebe für filterlose Zigaretten vermuten. Sie warf Ray einen forschenden Blick zu. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«
    »Autounfall«, sagte er kurz angebunden. »Wenn Sie mir

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