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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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er gelogen hat. Du bist der Lügner.«
    »Warum wartest du mit deinem Urteil nicht ab, bis du meine Schilderung hörst?«
    Ich hielt eine Hand hoch. »Äh, Ray? Werde ich mich über das, was als nächstes kommt, wundern? Wird es irgendwie alles ganz neu sein und mich tierisch ärgern?«
    Er lächelte dämlich. »Warum?«
    »Weil ich mich langsam frage, wie viele Versionen der Geschichte sie erzählen. Das ist meiner Zählung nach die dritte.«
    »Damit hat sich’s. Es ist die letzte. Bei Gott.«
    Ich sah Laura an. »Der Mann lügt wie gedruckt.«
    »Ich habe nicht gelogen«, widersprach er. »Ich habe vielleicht ein paar Dinge unerwähnt gelassen.«
    »Eine Schießerei mit der Polizei? Was haben Sie sonst noch unerwähnt gelassen? Interessiert mich brennend«, sagte ich.
    »Auf den Sarkasmus kann ich verzichten.«
    »Und ich kann auf die Märchen verzichten! Sie haben behauptet, Gilbert sei ein ehemaliger Zellengenosse.«
    »Irgendwas mußte ich Ihnen ja sagen«, meinte er. »Kommen Sie. Es ist nicht so leicht. Ich habe vierzig Jahre lang den Mund gehalten. Johnny Lee und ich haben geschworen, daß wir nie etwas verraten würden. Das Problem ist nur, daß er gestorben ist, ohne mir dringend notwendige Informationen zu geben.«
    »Langsam wird’s gemütlich«, sagte ich. Ich beugte mich hinüber, zog die Kissen unter der Tagesdecke hervor, lehnte sie gegen den Kopfteil und streifte die Schuhe ab, bevor ich es mir bequem machte. Es war wie eine Gutenachtgeschichte, und ich wollte sie nicht verpassen.
    »Haben Sie’s bequem?« fragte er.
    »Ganz hervorragend.«
    »Johnny hat sich diesen Plan einfallen lassen und mich dazu überredet, mitzumachen. Sie müssen ein wenig Hintergrundwissen dazu haben. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«
    »Wenn Sie zur Abwechslung mal die Wahrheit sagen wollen, nehmen Sie sich ruhig Zeit«, sagte ich.
    Ray stand auf und begann hin und her zu gehen. »Ich überlege gerade, wie weit ich ausholen soll. Versuchen wir’s mal so. Im Winter 1937 trat der Ohio über seine Ufer. Ich glaube, es fing irgendwann im Januar zu regnen an, und das Wasser stieg immer weiter. Schließlich standen flußaufwärts und — abwärts an die zwölftausend Morgen Land unter Wasser. Damals war Johnny in der staatlichen Besserungsanstalt in Lexington. Nun, die Insassen zettelten einen Aufstand an. Sechzig von ihnen brachen aus, und Johnny Lee war einer von ihnen. Er schafft es bis Louisville und taucht in dem Trubel unter. Er fängt an, bei den Hilfsmaßnahmen gegen die Überschwemmung mitzuarbeiten.« Er hielt inne und sah von Laura zu mir. »Nur Geduld«, sagte er. »Ihr müßt nämlich begreifen, wie dieser Plan überhaupt zustande kam.«
    »Nichts dagegen«, sagte sie.
    Er sah mich an.
    »Erzählen Sie nur weiter«, sagte ich.
    »Okay. Also, Tausende von Freiwilligen strömten in die Stadt. Und niemand stellte Fragen. Johnny hat erzählt, wenn man einfach mit anpackte, kümmert es keinen, wer man war oder woher man kam. Er rudert also durchs Westend und rettet Leute von Hausdächern. An den meisten Stellen reicht das Wasser bis zum ersten Stock — ich habe Fotos davon gesehen — , also so hoch wie Verkehrsampeln. Gräßliche Geschichte. Johnny hat sich aus vier Fässern und ein paar Kisten ein Boot gebaut und rudert mitten auf der Straße entlang. Für ihn war es ein Riesenspaß. Er ist sogar hinterher noch dageblieben und hat beim Aufräumen geholfen, und dabei hat er sich diesen Bruch ausgedacht.«
    »Viele Gebäude sind eingestürzt. Ich meine, die ganze Innenstadt stand wochenlang unter Wasser, und als der Fluß zurückging, haben sie Mannschaften aufgestellt, die alles reparieren sollten. Johnny war schlau. Er wußte alles mögliche. Er erzählte herum, daß er auf dem Bau gearbeitet hätte, und so hat man ihn mitarbeiten lassen. Jedenfalls, wie er da so eines Tages in einem Keller herumkriecht, fällt ihm auf, daß er auf die Unterseite einer Bank blickt. Der Strom ist schon seit Tagen ausgefallen, eine Menge Ablaufkanäle sind unbrauchbar geworden, und das ganze Wasser fließt an den Fundamenten vorbei. Oben in der Wand ist ein Riß, den er beiseitigen soll. Er pfuscht irgend etwas hin, auf das ein Fachmann nie hereinfallen würde, aber es ist ja keiner da. Alle haben viel zuviel zu tun, um auf ihn zu achten. Und so erzählt er ihnen, er hätte ihn beseitigt, obwohl er doch nichts anderes getan hat, als ihn zu kaschieren. Er zeichnet sogar die Inspektion mit gefälschten Unterschriften ab. Nicht

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