Letzte Ehre
für einen Schlüssel?« wollte Laura wissen. Das war ihr offensichtlich neu, und es schien sie zu ärgern, daß ich mehr wußte als sie.
Ray ignorierte sie. »Haben Sie’den noch?«
»Wenn ich es rechtzeitig weiß, kann ich ihn organisieren«, sagte ich.
»Gut. Ich möchte nicht, daß Sie davonspazieren, ohne ihn herzugeben.«
»Glauben Sie, daß ich Ihnen helfen werde, um Chester um seinen rechtmäßigen Anteil zu betrügen?«
»He, er würde das gleiche tun. Er wird Sie vermutlich auch betrügen.«
»Darauf möchte ich wirklich nicht eingehen«, sagte ich. »Glauben Sie, daß Johnny tatsächlich sein Wort gehalten hat?«
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß er einen solchen Batzen Geld einfach abschreibt. Er muß noch einen Plan in der Hinterhand haben, irgend etwas Idiotensicheres für den Fall, daß er vom Auto überfahren wird oder so. Warum fragen Sie? Haben Sie selbst irgendwelche Ideen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Es ist lediglich ein interessantes Projekt. Was ist Ihre Strategie?«
»Meine Strategie ist, dieses Problem dann zu lösen, wenn es ansteht«, sagte er.
Nachdem wir uns wieder auf den Weg gemacht hatten, verkroch sich Ray auf die Rückbank, um zu schlafen, während ich fuhr und Laura seinen Platz auf dem Beifahrersitz einnahm. Wir sahen zu, wie das silberne Band des Highways unter uns abrollte. Die Lichter am Armaturenbrett strahlten eine sanfte Beleuchtung aus. Ray zuliebe stellten wir das Radio ganz leise und beschränkten unsere Konversation auf eine gelegentliche Bemerkung. Ray begann zu schnarchen, ein abgehacktes, von Stille unterbrochenes Ausatmen, als hielte ihm jemand in regelmäßigen Abständen die Nase zu. Als sich abzeichnete, daß ihn höchstens eine Karambolage mit vier Autos aus dem Schlaf reißen könnte, begannen wir leise zu plaudern.
»Sie haben also nie Gelegenheit gehabt, Zeit mit ihm zu verbringen«, sagte ich.
Laura zuckte die Achseln. »Im Grunde nicht. Meine Mutter hat mich gezwungen, ihm einmal im Monat zu schreiben. Sie hat immer großen Wert darauf gelegt, sich um Leute zu kümmern, denen es nicht so gut ging wie uns. Ich weiß noch, wie ich mich umsah und mich fragte, von wem zum Teufel sie denn redete. Dann heiratete sie wieder und schien nicht mehr an Ray zu denken. Zuerst bekam ich deshalb Schuldgefühle, bis ich ihn selbst vergaß. Kleine Kinder sind nicht gerade bekannt dafür, die Bedürfnisse anderer Menschen zu erfüllen.«
Ich sagte: »Ich bin eigentlich der Meinung, daß Kinder versuchen, es jedem recht zu machen. Was haben sie sonst schon für eine Wahl? Wenn man von jemandem abhängig ist, paßt man besser auf, daß man ihn bei Laune hält.«
»Sagte die wahre Neurotikerin. Leben Ihre Eltern noch?«
»Nein. Sie kamen gemeinsam bei einem Unfall ums Leben, als ich fünf war.«
»Aha. Nun stellen Sie sich vor, einer von beiden würde eines Tages plötzlich auftauchen. Da bringt man sein Leben damit zu, sich einen Vater zu wünschen. Dann hat man auf einmal einen und merkt, daß man nicht die leiseste Ahnung hat, was man mit ihm anfangen soll.« Sie warf Ray auf dem Rücksitz einen beklommenen Blick zu. Wenn er nur so tat, als ob er schliefe, dann machte er es wirklich gut.
Ich fragte: »Stehen Sie Ihrer Mutter nahe?«
»Bevor ich Gilbert traf, schon. Sie mag ihn nicht besonders, aber das kommt vermutlich daher, daß er sie nie richtig beachtet hat. Sie ist so eine Art >Southern belle<. Sie mag Männer, die sie umgarnen.«
»Was ist mit Ihrem Stiefvater? Was gibt’s von ihm zu erzählen?«
»Er und Gilbert sind dicke Freunde. Er wollte nie glauben, daß Gilbert mich schlug, ohne daß ich ihn provoziert habe. Nicht, daß er es gutgeheißen hätte. Er geht nur einfach immer davon aus, daß es auch eine andere Sichtweise gibt. Er ist einer von denen, die sagen: >Tja, das ist deine Meinung. Bestimmt hätte Gilbert etwas anderes dazu zu sagen.< Er brüstet sich damit, fair zu sein und keine vorschnellen Schlüsse zu ziehen. Wie ein Richter, wissen Sie. Er möchte die Argumente der Anklage und der Verteidigung hören, bevor er seine Strafe verkündet. Er sagt, er möchte nicht voreingenommen sein. Was er eigentlich damit meint, ist, daß er mir kein Wort glaubt. Was immer Gilbert tut, ich habe es verdient, wissen Sie? Vermutlich wünscht er sich, er könnte selbst mal auf mich losgehen.«
»Was ist mit Ihrer Mutter? Hatte sie nichts dagegen, daß Gilbert Sie geschlagen hat, oder wußte sie nichts davon?«
»Sie sagt dasselbe wie
Weitere Kostenlose Bücher