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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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Kerlchen in meinem Blickfeld saß in der Ecke fest, wo es geduldig gegen die Wände scharrte wie ein Hund, der hinauswill. Man kann diese Tierchen nicht zertreten, ohne Gefahr zu laufen, unvermittelt einen Schwall Zitronenpudding an die Schuhsohle gespritzt zu bekommen. Ich hängte meine Kleider in den Wandschrank, den ich zuerst vorsichtig inspiziert hatte. Keine braunen Einsiedlerspinnen oder pelzige Nagetierchen in Sicht.
    Das Badezimmer prangte mit braunen Vinylfliesen, einer Duschkabine aus Fiberglas, zwei cellophanverpackten Plastikbechern und zwei papierverpackten Seifchen in Visitenkartenformat. Ich zog meine Reisezahnbürste mitsamt der winzigen Zahnpastatube hervor und putzte mir in wortloser Verzückung die Zähne. Mangels eines Nachtgewands schlief ich in meiner (geborgten) Unterwäsche und faltete die baumwollene Tagesdecke einmal zusammen, um es wärmer zu haben. Laura ging ins Badezimmer und schloß pietätvoll die Tür, bevor sie ihren Bauchgurt entfernte. Ich war binnen Minuten eingeschlafen und hörte gar nicht, wie sie in ihr knarrendes Bett stieg. Es war noch dunkel, als sie mich um Viertel vor sechs anstieß. »Wollen Sie zuerst duschen?« fragte sie.
    »Gehen Sie vor.«
    Das Licht im Badezimmer blitzte auf und schoß mir kurz übers Gesicht, bevor sie die Tür schloß. Sie hatte die Vorhänge aufgezogen, wodurch Licht von den Lampen draußen auf dem Parkplatz hereinkam. Durch die Wand glaubte ich die Dusche von nebenan zu hören, was hieß, daß Ray wach war. Im Gefängnis war er vermutlich immer um diese Zeit aufgestanden. Jetzt bedeutete eine Dusche Luxus, da er sie für sich allein hatte und nicht jedesmal, wenn er die Seife fallen ließ, eine sexuelle Attacke befürchten mußte. Ich stützte mich auf einen Ellbogen und sah zu der Autowerkstatt auf der anderen Straßenseite hinaus. Eine Vierzig-Watt-Birne brannte über dem Servicebereich. Es war Montag morgen, und wo war ich? Ich sah auf dem bedruckten Streichholzbriefchen im Aschenbecher nach. Ach ja. Whiteley, Arkansas. Ich erinnerte mich an das Ortsschild vor der Stadt, das eine Bevölkerungszahl von 523 genannt hatte. Vermutlich übertrieben. Ich empfand ein kurzes Aufwallen von Melancholie und sehnte mich nach Hause. In den wilden Tagen meiner Jugend, vor Herpes und Aids, bin ich gelegentlich in Zimmern wie diesem aufgewacht. Es birgt einen gewissen Schrecken, wenn man sich nicht mehr genau daran erinnern kann, wer da so fröhlich hinter der Badezimmertür pfeift. Wenn es mir wieder eingefallen war, konnte ich oft nicht umhin, meinen Geschmack hinsichtlich männlicher Gesellschaft in Zweifel zu ziehen. Ich brauchte nicht lange, um Tugendhaftigkeit als den schnellsten Weg zur Vermeidung von Selbsthaß zu erkennen.
    Als Laura das Badezimmer freimachte, vollständig angezogen und den Bauchgurt an Ort und Stelle, putzte ich mir die Zähne und wusch mir mit dem zusammenschrumpfenden Seifenstückchen die Haare. Meine Jeans waren zwar trocken, erinnerten aber immer noch an Aschenbecher und erloschene Lagerfeuer, und so zog ich wieder Lauras Jeanskleid an. Sauber zu sein, hob meine Stimmung bereits enorm. Ich sammelte den Rest meiner aufgehängten Kleidungsstücke aus dem Wandschrank zusammen und brachte sie hinaus zum Auto.
    Die Route hatte uns auf einer geraden Linie in Richtung Norden geführt. Hier war die Kälte spürbarer. Die Luft wirkte dünner und der Wind schneidender. Ray hatte eine mit Webpelz gefütterte Jeansjacke angezogen, und als wir ins Auto stiegen, warf er jeder von uns ein Sweatshirt zu. Dankbar zog ich es über den Kopf und meinen Blazer darüber. Über dem Volumen des Sweatshirts saß er so eng, daß ich kaum die Arme bewegen konnte, aber wenigstens war mir warm. Laura legte sich ihr Sweatshirt wie eine Stola um die Schultern. Ich setzte mich auf den Rücksitz und wartete im Wagen, während Laura die Schlüssel abgab und Ray Kleingeld in den Automaten warf, der bei der Rezeption um die Ecke stand. Sie kehrten mit verschiedenen Knabbereien und Erfrischungsgetränken, die Ray verteilte, zum Wagen zurück. Nachdem Laura losgefahren war, verzehrten wir ein Frühstück aus No-name-Cola, Erdnüssen, Schokoriegeln, Erdnußbutterkeksen und Käsecrackern ohne jeden Nährwert.
    Laura drehte die Heizung auf, und schon bald war der Wagen erfüllt vom seifigen Duft von Rays Rasierwasser. Abgesehen von seinem zerschundenen Gesicht und den gebrochenen Fingern, was beides übel aussah, war seine äußere Erscheinung untadelig. Offenbar

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