Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
Vom Netzwerk:
verließ die Toilette und gönnte mir ein paar Minuten allein.
    Ich ließ Wasser in das Waschbecken laufen, bis es heiß wurde, wusch mir das Gesicht und tauchte meinen Kopf ein, um den Rauchgeruch auszuwaschen. Dann benutzte ich die harten Papierhandtücher, um mir das Haar trockenzureiben, und kämmte die einzelnen Strähnen anschließend mit den Fingern zurecht. Ich merkte, wie mich eine Woge der Übelkeit durchzuckte wie ein heißer Blitz. Ich stützte die Hände aufs Waschbecken und hielt mich fest, während ich mich sammelte. Es war Sonntag abend, und ich saß mit einem Ex-Sträfling, seiner Tochter und einem Bündel geklautem Bargeld in irgendeinem namenlosen Vorort von Dallas. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus und starrte mein Ebenbild in dem schmuddeligen Spiegel an. Trübselig zuckte ich die Achseln. Es könnte (vermutlich) schlimmer sein. Bis jetzt war zumindest niemand zu Schaden gekommen, und ich hatte noch ein paar Dollar übrig. Ich freute mich auf eine Mahlzeit, obwohl ich mich darauf verlassen mußte, daß sie meine Reisegefährten bezahlen würden. Sowie wir nach Little Rock kamen, würde ich Henry anrufen, der mich retten würde. Er konnte mir telegraphisch Geld anweisen, das Flugticket auf seine Kreditkarte kaufen oder irgend etwas in der Richtung. Morgen früh läge ich sicher in meinem Bett, holte den entgangenen Schlaf nach und schätzte mich glücklich.
    Ich ging zurück zum Wagen und stopfte den größten Teil meiner feuchten Kleider neben Rays Gepäck in den Kofferraum. Den Blazer nahm ich, obwohl er noch feucht war, mit hinüber ins Café, da ich ihn nicht aus den Augen lassen wollte. Das Lokal war fast leer und besaß eine reizlose, vernachlässigte Atmosphäre. Sogar die Einheimischen müssen das Etablissement gemieden haben, das vermutlich als Familienbetrieb begonnen hatte und seit geraumer Zeit seinem derzeitigen verwaisten Zustand anheimgefallen war. Ich sah zwar keine Fliegen, aber die Geister der Fliegen vergangener Tage schienen in der Luft zu hängen. Die Fenster zur Straße waren vom Staub eines halbfertigen Neubaus auf der anderen Straßenseite überzogen. Sogar auf den falschen Topfpflanzen lag eine Rußschicht.
    Ray und Laura saßen einander gegenüber in einer Ecknische. Ich setzte mich neben Ray, da ich nicht besonders erpicht darauf war, sein zerschlagenes und geschundenes Gesicht vor Augen zu haben, während ich zu essen versuchte. Laura sah nicht viel besser aus. Wie ich trug sie kein Make-up, aber während bloße Haut mein bevorzugter Zustand ist, hatte sie stets sorgfältig die Blessuren kaschiert, die Gilbert ihr systematisch zugefügt hatte. Ich konnte ihr ansehen, daß sie die meisten Verletzungen bereits vor einiger Zeit erlitten hatte, da die dunkelsten Verfärbungen bereits zu zarten Grün- und Gelbtönen verblaßt waren. Ray war dagegen ein wahrer Regenbogen der Mißhandlung, verschorft, zerschnitten und hier und da wieder zusammengeflickt. Ich konzentrierte meinen Blick auf die Speisekarte, die sämtliche Standardgerichte bot: paniertes und fritiertes Steak, paniertes und fritiertes Hühnchen, Hamburger, Pommes frites, Sandwich mit Speck, Salat und Tomaten, gegrilltes Käsesandwich und »frische« Suppen, die vermutlich hinten in der Küche aus großen Dosen gekippt wurden. Wir bestellten Cheeseburger, Pommes frites und große Cokes, die fast überhaupt nicht sprudelten. Ohne Kohlensäure schmeckte die Cola wie der Sirup, den man früher als Hausmittel gegen Frauenleiden zu verabreichen pflegte. Die Bedienung war so freundlich, meine Tischgenossen nicht nach ihren Verletzungen zu fragen.
    Beim Essen sagte ich zu Ray: »Ich frage nur aus Neugier, aber wie wollen Sie denn herausfinden, wo das Geld versteckt ist, wenn Sie in Louisville angekommen sind?«
    Er schluckte einen Bissen Cheeseburger hinunter und wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab. »Weiß ich noch nicht. Johnny sagte, er würde bei meiner Ma Nachricht hinterlassen, für den Fall, daß ihm etwas zustieße, aber wer weiß, ob er das je getan hat. Vereinbart war, daß ich aus dem Gefängnis schnurstracks zu ihm nach Kalifornien kommen sollte. Dann wollten wir zu zweit nach Louisville fahren und das Geld holen. Er hatte es gern zeremoniell, wissen Sie, wollte die lange Wartezeit und die harte Arbeit, die dafür nötig waren, feiern. Auf jeden Fall kann ich sagen, daß man — wo immer sich das Geld befindet — einen Schlüssel braucht, um ranzukommen.«
    »Den habe ich«, sagte ich.
    »Was

Weitere Kostenlose Bücher