Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
April 2006 Das Datum trifft mich immer noch wie ein Schlag. – Baden-Baden. Kalter Regen. Gute Küche. Die betagte Eigentümerin im Buchladen: «Sie haben viele Leser hier in Baden-Baden.» – Ich kann nichts in Angriff nehmen, unentschlossen durchforste ich meine Dateien. Keine Inspiration; ich kann nicht behaupten, daß es in irgendeinem Winkel meiner Phantasie von Charakteren wimmelte. Doch es steht schon fest, daß ich etwas Fiktionales schreiben muß, den
Einsamen von Sodom
. Zudem scheint das Leben dieser alten literarischen Fiktion von mir zu folgen – die Entwicklungen im Iran entsprechen exakt meinem Entwurf. Vorläufig habe ich keine Lust zu arbeiten. Vielleicht, wenn ich an Lots mörderische
Reinheit
denke («die drückende Last nicht begangener Sünden»): darin liegt ein Anreiz … Vorerst ruhen wir uns aus und genießen den Luxus.
12 . April 2006 Anruf von Alexander Fest. Warm und von Herzen lobt er das
Dossier
(«ein großes Buch»). Später leichte Auseinandersetzung mit M., die schon eine Phase weiter ist und von der Werbung für das Buch spricht, die sie bereits jetzt als unzureichend betrachtet. Wie gewöhnlich erwähnt sie den Verlag von E., der «soviel für seinen Autor tut». (Das Bezzeg-Syndrom [12] )
13 . April 2006 Baden-Baden. Ferien – das heißt qualvolles Nichtstun – an diesem wunderschönen Ort. –
Dossier K.
ist mein erstes Buch, das ich vorbehaltlos mag. Mein Leben, meine Lebensform aber mag ich nicht. Das Ganze ist durch kapitulierende Kleinmütigkeit gekennzeichnet. Jeden Morgen schlüpfe ich hinein und ziehe es mir mit großer Mühe über, wie einen schlecht geschnittenen Mantel. – Es quält mich,
Die letzte Einkehr
nicht zu schreiben – nicht schreiben zu können: Eigentlich wäre es die organische Fortsetzung. Doch ich fürchte, damit Lebende zu verletzen: ein Aspekt, den ich bislang noch niemals in Betracht gezogen habe.
14 . April 2006 Baden-Baden. «Ach, mich zieht ein schlechter Wagen …» Das Schauspiel ist fast zu Ende, und daran kann ich nichts ändern. Meine Lebensweise ist das schleimige Dahinwinden einer Schnecke, die sich auf einer sandigen Promenade vorwärts kämpft. Langsam geht mir verloren, was ich zu sagen habe, langsam verliere ich mich selbst.
16 . April 2006 Baden-Baden. War es Stendhal oder Flaubert, der vorm Schreiben immer das Gesetzbuch studierte? Anruf von Vera Ligeti: Als sie L. am Krankenbett
Dossier K.
vorlas, habe dieser, der seit Monaten schweigt, auf einmal gesagt: «Das ist wieder der echte Kertész.» Dann habe er Vera um
Liquidation
gebeten: Sie möge ihm doch auch das vorlesen, denn «es könne sein», er habe sich damals in der Beurteilung geirrt. Magda nahm umgehend die Organisation in die Hand: Am Ostermontag – also heute – wird ein Taxifahrer in der Himmelhofgasse erscheinen und Vera das aus Budapest georderte Buch überbringen. Das hätte niemand sonst bewerkstelligen können, niemand sonst wäre überhaupt auf die Idee gekommen, Ligeti das Buch gewissermaßen postwendend zukommen zu lassen; M. mußte zuerst mit meinem … wie soll ich sagen: reaktionsträgen Widerstand kämpfen, dann mit der Indifferenz ihres Sohnes, der es eher als Belästigung betrachtete, das ihm gewidmete Exemplar auf dem Altar der Wohltätigkeit opfern zu sollen. Es ist nicht leicht, Oberhand zu gewinnen über die natürliche Ordnung der Welt: die Schlechtigkeit, doch M. ist anscheinend dazu geboren.
21 . April 2006 Gestern abend
Godot
, in der Regie Taboris – kaum zu glauben, da er bereits 92 ist. Ein lehrreicher Abend, um so mehr, als es für mich die erste Gelegenheit war, Becketts Stück auf der Bühne zu sehen. Die Inszenierung war meines Erachtens miserabel; zusammen mit M. analysierte ich lange die Gründe dafür – beinahe geriet schon das Stück selbst in Verdacht; mir fiel das saure Gesicht Reich-Ranickis in Baden-Baden ein, als er bei der Feier zu Becketts hundertstem Geburtstag erklärte, daß er ihn durchaus nicht «für den größten Schriftsteller des 20 . Jahrhunderts» halte. Nebenbei gesagt nerven mich diese Rangstufungen enorm; egal, ich fand diese Inszenierung zu «gemütlich», und Gemütlichkeit ist das, wovon Beckett wohl am weitesten entfernt ist. Man konnte die Dialoge nicht genießen, sie schienen fast bedeutungslos, was doch absurd ist, wenn es um
Godot
geht. Jetzt, morgens um sechs, lese ich gerade in Knowlsons ausgezeichneter Beckett-Biographie. Beckett ist ein großer Autor, und das bleibt er auch.
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