Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
– Etwas anderes: Gestern erneut ein Telefonat mit Alexander Fest, der
Dossier K.
, nachdem er das Manuskript jetzt zu Ende gelesen hat, ein «Hauptwerk» –
capolavoro
– nannte. Beckett hatte übrigens im Alter genauso mit Inspirationsmangel zu kämpfen wie ich … Wiewohl ich
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für einen Segen Gottes, eine unerwartete Erfüllung halte.
29 . April 2006 Vorgestern in Barenboims Konzert mit Cecilia Bartoli. Ein erhebender Erfolg. Anschließend im Zimmer des Maestros: So müde habe ich ihn noch nie gesehen. Er erkundigte sich, ob wir Kontakt zu dem Komponisten aufgenommen hätten, den er mir empfohlen hatte (sein Name fällt mir im Moment nicht ein); er will, daß ich ein Libretto, eine Oper schreibe. Er hat es sich derart in den Kopf gesetzt, daß mein leises Maunzen soviel wie Luft für ihn gewesen sein wird. – Sonst nichts, gar nichts. Das
Dossier
ist in der Grube namens Ungarn versunken.
1 . Mai 2006 Im übrigen ein reizarmes Leben; Warten auf Godot. – Ich müßte für das Konzert des Amadinda-Ensembles etwas über Ligeti schreiben. – In der Nacht in der
Letzten Einkehr
gelesen – nein, sie systematisch durchgelesen: Es wäre gut, sie zu Ende zu schreiben – aber es geht nicht, es ist müßig. Das Geschriebene müßte für zwanzig Jahre in den Safe.
2 . Mai 2006 Ich rüste mich für die Ligeti-Rede. Ich fürchte mich davor, eine nutzlose Arbeit, die wieder nur ein Stück meines Lebens abzwackt und nichts bringt.
Über Ligeti – behutsam
würde ich sie gern betiteln. – Gestern morgen erwachte M. nur schwer und klagte über die allgemeine Vergeblichkeit; eine regelrechte Depression hatte sie gepackt. Es tat mir in der Seele weh; schließlich überredete ich sie dazu, daß wir das Auto herausholen und mittags draußen am See, im La Forchetta, essen: Das brachte sie im Nu wieder in Ordnung. Ich möchte, daß sie glücklich ist, nur darin könnte ich eine Rechtfertigung für mein Leben sehen. Wenn ich von Einsamkeit spreche, stelle ich mir sie zusammen mit M. vor; und genauso handelt es sich, wenn ich von Emigration spreche, um unser beider Emigration. Für sie aber ist, was für mich heimisch ist, Verbannung: Es ist meine schwere Verantwortung, sie hierher nach Deutschland gebracht und sie damit gleichsam aus ihrer natürlichen Umgebung heraus-und von ihrer Familie weggerissen zu haben. Am Nachmittag machte mir ein Gespräch (mit ihrem Sohn in Budapest) bewußt, daß ihr Platz auch nicht dort ist; sie können ihr weder die besondere Art noch die besondere Situation (mit mir und durch mich) verzeihen. Schwer zu leben, und das Alter macht es immer schwerer.
6 . Mai 2006 Vorgestern und gestern in Bremerhaven. Lesung aus der
Detektivgeschichte.
Nachts mit der Ligeti-Rede gerungen. Es geht nicht. – Brief von Eva Haldimann. – Das Buch ist in Ungarn ohne Resonanz.
10 . Mai 2006 Berlin. Konfuse Tage. Ligeti-Hommage, die Fahnenabzüge von
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, auf Deutsch. Abmagerungskur. (Wirksam.) Geistige Trägheit. Schließlich habe ich heute morgen entschieden, daß ich die
Letzte Einkehr
auch dann zu Ende schreibe, wenn ich sie nicht veröffentliche. Ich kann nicht leben ohne schriftstellerische Pläne. Vom
Sodomer
noch nichts da, weder Handlung noch Figuren.
15 . Mai 2006 Drei Tage Wien. Barenboims Siemens-Preis, danach ein wunderschönes Konzert im Musikverein; noch nie einen so eindrucksvollen
Warschauer
… Und das Klavierkonzert von Beethoven, das er spielte und dirigierte. Als ich mit M. zu ihm ging, um ihm zu gratulieren, erinnerte er wieder an das versprochene Libretto auf der Grundlage des
Sodomers
. Er denkt allen Ernstes, ich würde es schreiben. Der Besuch bei Ligeti; wir trafen dort noch Aimard an; der Besuch selbst war zum Verzweifeln und unergiebig. Er liegt stumm mit geschlossenen Augen auf seinem Bett und gibt kein Lebenszeichen. Die merkwürdige Ähnlichkeit mit dem Fall Leverkühn; unterdessen M.s Konflikt mit Vera, die sie nicht zu Ligeti hinaufgelassen hat. Danach den ganzen Abend die berechtigten, aber ermüdenden Vorwürfe M.s. Nebenbei bemerkt, hatte der Besuch bei Ligeti auch gar keinen Sinn, trotz der Geschichte, die Vera fabuliert hatte, nämlich wie sie ihm (Ligeti)
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vorgelesen habe. Ich war nicht wirklich erschüttert, und das erschütterte mich; aber ich kann nicht vergessen, wie er in seinen letzten guten Tagen mit mir umgegangen ist. Mit einem Wort, mich umgab Lüge, Lüge und Unbehagen … Das Leben wird immer schwerer und immer
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