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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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deprimierender. (Irgendeine Droge besorgen – aber wo, wo, wo??)
    17 . Mai 2006  Senile Ängste. Angst vor Unproduktivität, allgemeine Lebensangst. – Allen Anzeichen nach wird
Dossier K.
die daran geknüpften Hoffungen nicht erfüllen. – In Berlin hält sich eine Menge Ungarn auf, und ich müßte mich mit jedem einzelnen treffen – oder zumindest meinen sie, daß ich mich mit jedem einzelnen treffen müßte …
    20 . Mai 2006  Am frühen Morgen legte ich (legte sich) einfach op. 106 , die Hammerklaviersonate, auf. So wie einst, vor langer Zeit … Statt mit Triumph füllte sich die Welt mit Fragen. – Gestern Pilinszky auf Videokasette gelesen: «Ich erlebe das Mysterium des Endes.» Betet für mich, meine Lieben … Tiefe Verwandtschaft. Wer wird meinen tiefen Katholizismus erkennen? Was für eine eitle Frage. – Den Ligeti-Text auf Video gelesen. Als was soll ich mein Leben, unser Leben betrachten? Sind wir gescheitert? Op. 106 hat mich zurückgeholt … Das alte Glück, die alte Demut; die alten schöpferischen Stimmungen. Ich habe mich in einen sonderbaren Zustand gebracht; mag sein, ich verstehe etwas nicht …
    21 . Mai 2006  Nacht für Nacht werde ich zum Teufel; esse Schmalzbrote. – Gestern abend Konzert der Berliner Symphoniker, dirigiert von Zoltán Peskó. Wenn er sich verbeugt, schwingt er das rechte Bein nach hinten. Der rote Pullover hing an ihm herunter. Esterházys. Péter im Anzug, nie gesehene Eleganz. Gitta trägt das Haar braun. Péter ist schweigsamer geworden, irgendwie sanfter. Das Kurtág-Werk war nicht zu verstehen, ich weiß nicht, lag es am Werk selbst oder an der Aufführung.
    14 Uhr. Eine Stimme foppte mich, die Stimme von Lot auf der Terrasse des Hotels Kempinski. Also lebe ich immer noch im Bann meiner Pläne. Eines aber habe ich zweifellos verloren: die Intimität mit mir selbst. Zum einen redet immer jemand herein, was die Dimensionen verzerrt; zum anderen habe ich mir selbst ein neues «Über-Ich» ausgearbeitet, das in Verlegenheit ist und in Verlegenheit bringt.
    22 . Mai 2006  Auch heute ist der kleine Singvogel – wie immer – pünktlich morgens um vier zum Rendezvous erschienen. Er läßt sich vor dem Fenster meines Arbeitszimmers auf der obersten Sprosse der Eisenleiter nieder, die dort aus irgendeinem Lüftungsschacht aufragt, wirft einen Blick herein, ob ich da bin, und stimmt dann mit einer im Verhältnis zu seiner Körpergröße ungemein schrillen Stimme sein Morgenlied an. Gestern, als ich in der Bibel blätterte, las ich die Geschichte von Lot. Sie steckt voller Ungereimtheiten, sowohl was die Personen als auch was die Handlung betrifft; und dennoch erweckt das Ganze den Eindruck einer Kernexplosion; auffällig ist zum Beispiel, daß Lot mit seinen Töchtern auf einen Berg übersiedelt – das wird gleich zweimal betont –, als fürchte er sich vor atomarer Verseuchung. Egal, die ganze Geschichte ist ungemein inspirierend. – Ich beschloß, als Tagesarbeit erst einmal meinen Computer auszumisten, ihn von überflüssigen Texten zu befreien und die wichtigsten herunterzuladen.
    25 . Mai 2006  Ich nehme jedes Zeichen von Zuneigung mit kindlicher Freude auf; nie werde ich jener gleichmütige Fremde sein, als den ich mich selbst erträumt habe.
    26 . Mai 2006  Fast wie ein Außenstehender schaue ich mir mein Schwanken zwischen der
Letzten Einkehr
und dem
Einsamen von Sodom
an. Beide sind attraktiv, und nach meinem Herzen – aber auch meinem Verstand – würde ich am liebsten nach dem ersten greifen, da es schon nahezu steht. Nur daß mir das M., fürchte ich, nie verzeihen würde. – Zum wievielten Mal lege ich schon das
poco adagio
, den Beginn des zweiten Teils von Mahlers 8 . Symphonie auf? Zum fünfzigsten, zum hundertsten Mal? Ich werde nie genug haben von dieser narzißtischen Todesromantik, dem herzzerreißenden, vom Tremolo der Bratschen begleiteten Schmettern der Blechbläser … Das ist meine Welt, ich könnte es tausendmal hören, ich hätte nichts dagegen, wenn es unaufhörlich erklänge, während des Essens, in der Badewanne, auf dem Klosett, beim Schreiben,
ewig
,
ewig …
[13]
    28 . Mai 2006  Gestern habe ich für die alten Herren und betagten Damen des Pour le mérite gelesen. Ich las die letzten Seiten aus dem
Roman eines Schicksallosen
und war selbst überrascht von der Reinheit, der Klassizität und Kraft des Textes. Dieses Buch ist nicht mehr das meine; ich verstehe die Geheimnisse seiner Entstehung nicht mehr …
    29 . Mai

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