Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
2006 Ich habe mir im Hotel Intercontinental die Schulter gebrochen. Alle sind sehr lieb. Der Bruch muß operiert werden. Magda kommt sofort aus Paris zurück.
17 . Juni 2006 Stille. Verlassenheit. Schmerzende Wunden. So fängt es wahrscheinlich an … Immer tiefere Stille. Immer größere Verlassenheit. Immer unwürdigere Schmerzen.
24 . Juni 2006 Ein zweiter Sturz zu Hause, in der Wohnung. Starke Schockwirkung. Das Parkinson-Zittern ist zurückgekehrt. Wahrscheinlich habe ich mir den operierten Arm verstaucht. Ich glaube, so fängt das Ende an, der physische Verfall, dem sich allmählich auch der geistige anzupassen gezwungen ist. Der Schock, die Gleichgewichtsstörungen, die Angst, die einem den Verstand raubt …
29 . Juni 2006 Alles ist ungenau. Nichts geschieht «so». Unser Leben ist ungenaue Beschreibung. Immer wieder schreiben. (Immer wieder umschreiben.) Musils merkwürdiges Verhältnis zu Katzen. Tatsache ist, daß ich seit dem Unfall sehr schlecht mit dem Computer zurechtkomme. Eine andere Sache sind die horrenden Kosten. Niemand gibt acht auf mich, niemand sagt mir, ich sollte an letzte Reserven denken … Dagegen wird erörtert, wer nach meinem Tod für meine Werke «sorgen» soll; es müßte ein «Kuratorium» eingerichtet werden, sagt M. Aus welchen Personen dieses «Kuratorium» bestehen solle. Das können wir nach meinem Tod besprechen, sagte ich (bzw. sagte ich nicht). Die Meinen zeichnen sich durch einen totalen Mangel an kosmischem Humor aus. Abendessen im umgestalteten Kempinski, hier legte M. plötzlich los und trug (und das keineswegs zum ersten Mal) ihre Anklagen vor. Ich kann nicht mit einer unglücklichen Frau zusammenleben, vor allem, wenn sie ihr Unglück mir zuschreibt. Die ganze Nacht das Gefühl vollständigen Scheiterns.
Ich müßte entscheiden, welche neue Aufgabe ich vor mir habe. Genauer, ob ich mir eine neue Aufgabe stelle. Wenn ja, könnte es nur
Die letzte Einkehr
sein; es wäre eine Ergänzung zum
Dossier
, das in einer Beziehung nämlich nicht wahrhaftig, nicht untadelig rein ist, und zwar in bezug auf das alltägliche Leben. Der Erzähler erscheint «glücklicher», als er «in Wahrheit» ist. (Auf wievielerlei Weise läßt sich unser Leben beschreiben?) Beschrieben werden soll, was ich irgendwo «ontologische Platzangst» genannt habe. Ein anderer Aspekt – vollkommen anders, und doch das gleiche Leben. So, daß man das erkennen könnte. Das gleiche am gleichen, im gleichen, zur gleichen Zeit. Und doch nicht mehr als Ergänzung. Eigentlich ist alles nur Ergänzung. Ich habe das Gefühl, schon halb tot zu sein.
3 . Juli 2006 Wo soll ich fortfahren? Gestern grauenhafte Schmerzen; ich sehe auf meinen Fuß: ein unförmiger Klotz, wie damals im KZ . Telefonische Information aus Budapest (Dr. Harsányi): Wahrscheinlich habe ich eine Wundrose. Abends der 75 . Geburtstag von Iván Nagel. Am Tisch von Weizsäcker, Walter Scheel – rührende alte Herren.
6 . Juli 2006 Es ist schwer. Am Anfang noch täglich, jetzt jeden zweiten Tag zur Physiotherapie … Was bringt es, meine Qualen zu beschreiben? Mein Körper bringt mich um. – Gestern Prof. Meier, Abendessen im La Forchetta. Er wirkte danach frisch, sein Ziegengesicht strahlte freundlich. Der Morgen dämmert, laut Computer ist es halb fünf. Ich schlafe nicht, als wäre ich das Gewissen der Welt.
19 . Juli 2006 Die größte Überraschung (die sich jeden Tag wiederholt): daß ich
da bin
… Ein verrückter, heißer Sommer.
Dossier K.
in Budapest durchgefallen.
Ich bin gewillt zu lesen – und lese doch nicht. Dafür vor einigen Tagen Beethovens 110 . Sonate wiederentdeckt. – Abendessen im Einstein. Während wir auf der dunklen Straße aufs Taxi warten, tauchen mit eiligen Schritten spärlich bekleidete Nutten auf, wie zum Dienst aufbrechende barmherzige Schwestern …
22 . Juli 2006 Mich hat die Langeweile, dieses schreckliche Alterssymptom, eingeholt. Die Ratio sagt mir, ich sollte mir den
Einsamen von Sodom
vornehmen.
Dossier K.
wird allgemein für ein gutes Buch gehalten, doch es läßt sich nicht verkaufen. Es wäre nicht schön, wenn ich zum Lebensende elende Geldsorgen bekäme. Die Hitze hält an, gestern 34 Grad. Der schwere Kampf, den ich gegen den Verfall führe. Vor allem muß ich die Langeweile besiegen.
23 . Juli 2006 Anruf von Vera L. Ich ertappte mich bei einer unverzeihlichen Feigheit. Anpassung verdirbt den Charakter. Andererseits kann ich mich gegen eine bestimmte Art Wahnsinn
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