Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
nicht zur Wehr setzen, und das zwingt mich zum Konformismus. Hier eine getreue Wiedergabe dessen, was ich bereits im Januar 2004 in dieses Tagebuch geschrieben habe – heute verhält es sich nicht anders: «Allmählich gewöhne ich mich daran, daß sich die Menschen etwas zusammenphantasieren, ihre Phantasien als Realität betrachten und mir diese ‹Realität› wie eine Zwangsjacke überziehen. Der Blödsinn, der mich umgibt, umgibt mich zu intensiv, als daß ich ein normales geistiges Leben führen könnte. Ich vegetiere dahin. Es gibt nichts Entsetzlicheres, als sich in Auflösung zu befinden, in Auflösung zu leben. Ich habe zu nichts Lust, auch dazu nicht, mit diesem Stoff (der Auflösung) etwas anzufangen.» Mein Leben wird von Feigheit bestimmt: ein neuer Gott, jetzt habe ich mich mit ihm anzufreunden.
25 . Juli 2006 Anhaltende Unfähigkeit, anhaltende Hilflosigkeit. Quälende Hitze. Rohrlegearbeiten. Chaos. Anti-kreative Lebensweise. Lächerliche Probleme (Kofferservice am Flughafen usw.), Vorbereitungen für Gstaad. Ich bin unfähig, die um mich aufgerichteten Hindernisse, diesen Wurst-Zaun, zu bezwingen. Gestriger Entschluß: ein «Portrait»-Dossier. Aber dann stellte sich heraus, daß die frisch installierte Toilettenschüssel leckt, und jedes höhere Trachten wurde hinweggefegt von dem Bemühen, einen Rohrleger oder wen auch immer zu finden. Wer auch immer meldete sich zwar später, was an meinen Sorgen aber nichts änderte.
26 . Juli 2006 Heute morgen um fünf kam ich auf die Frage, wie
Die letzte Einkehr
und
Der Einsame von Sodom
miteinander zu verknüpfen wären; etwa so, wie Rilke die Geschichte des Malte Laurids Brigge mit der des verlorenen Sohnes verbunden hat. Ein moralisches Märchen über Schuld. Ich glaube, es wäre der einzige Weg, sowohl den
Sodomer
als auch die
Einkehr
zu retten, die einzige reale Möglichkeit für ein letztes Buch.
29 . Juli 2006 Gestern in Gstaad angekommen. Die Begeisterung schnürt mir die Kehle zu, sooft ich an die (neu konzipierte)
Letzte
denke … Die Nacht der Empfängnis.
31 . Juli 2006 Gstaad. Bis in die Frühe hinein Liebe und Gespräche mit M. Wie soll ich die zerstörerischen Kräfte, die von mir ausgehen, ausgleichen? Die Logik meines Lebens hat mich nach Berlin geführt, und sie ist mir gefolgt; doch nun fühlt sie sich überflüssig neben mir … Obendrein der durch die Krankheit bedingte Bruch, dieses Schwert, das über unseren Köpfen schwebt … Ich habe auf dieses Leben achtzugeben; und soviel genügt jetzt.
2 . August 2006 Gstaad. Die davonrennende Zeit. Meine unfaßbare, sonderbare Existenz. Etwas Unaufhaltsames geht mit mir vor. «Ach, mich zieht ein schlechter Wagen …» usw., «Alles Ganze ist zerschellt …» M. sagt, ich zitierte neuerdings häufig Gedichte, was ich früher nie getan hätte. An meinem Fuß brennt etwas, das nach Wundrose aussieht. – Der alte Spanier, dem wir zuerst auf Madeira begegneten. Sein rotes, geädertes Beefsteak-Gesicht, weite Shorts über den dicken Schenkeln; mürrisches, abweisendes Gesicht, vor dem sich wohl selbst die kühnsten Bettler nicht versuchen würden. Eine imposante Atmosphäre der Einsamkeit umgibt ihn. Zeigt sich – uns zu Ehren – ein Lächeln auf seinem Gesicht, verfliegt der Zauber: Er verwandelt sich in einen höflichen, etwas jämmerlichen alten Mann.
3 . August 2006 Gstaad. Abendessen im Chalet der T.s. Die Berge im theatralischen Licht der Abenddämmerung. Beim Gespräch sagte ich, daß wir in jungen Jahren in einem dramatischen Verhältnis zum Tod stünden, während wir später in eine philosophische Beziehung zu ihm träten, im Alter dagegen werde er zur Realität, zu einer einfachen praktischen Frage. Und alle drei Stadien erforderten einen jeweils eigenen Stil.
4 . August 2006 Gstaad. In den Bergen hocken Nebel. Von einer Tannenspitze hängt ein Nebelfetzen als Fahne. Morgens halb acht. Es ist noch halb dunkel, ein kalter, stechender Regen geht nieder, ausdauernd und bösartig, in der Ferne tobt Krieg, ein schändlicher, verzweiflungsvoller und trauriger Krieg, wie eine grandiose Heimsuchung, eine Tragödie, doch an Stelle von Erhabenheit nur graue, barbarische Zerstörung. Ein Volk, das seit fünftausend Jahren zumindest von jeder zweiten Generation zur Ausrottung verurteilt wird und das es doch noch immer gibt; auf der anderen Seite eine geschundene Masse mit ihrer heimatlosen Not, die ausgenutzt, betrogen, in den Fanatismus getrieben und schließlich in den
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