Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
leben. – Mit dem gebrochenen Arm zur Physiotherapie in die Elisabeth-Klinik. Die Krankengymnastin aus Danzig. Während sie massiert, diskutieren wir die Weltlage. Osteuropäischer Weltekel. Sie versteht ihr Fach. – Die Rede des Historikers Schäfer in Buchenwald: Es ging darin um die «Vertreibung», die Umsiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung nach dem zweiten Weltkrieg, die deutschen Opfer; kein einziges Wort erinnerte daran, daß man in Buchenwald war, wo Zehntausende von Juden ermordet wurden. Meine alte Prophezeiung, daß die dritte Generation den Nazismus zurückbringen, sich erneut mit ihm identifizieren werde, erweist sich leider als wahr. In meinen Augen hat der Historiker Schäfer Buchenwald für immer geschändet. (Ein seltsamer Satz.) – Ansonsten lebe ich nicht gut. In mir ist keine Erzählung, und ich weiß nicht, womit die Zeit vergeht.
4 . September 2006 Früher Morgen in Berlin. Grauer Regen. Gestern abend meldete sich László Földényi, wir gingen zusammen ins Einstein, in der Hoffnung auf Wiener Küche. Schließlich bekamen wir ein schlechtes Rinderfilet, keiner wagte zuzugeben, daß das Fleisch zu zäh war. Wir fühlten uns wohl, lachten viel, worüber weiß ich nicht mehr.
Heute mittag wird mir im Rathaus die Ernst-Reuter-Plakette verliehen.
5 . September 2006 Ernst-Reuter-Plakette im Roten Rathaus erhalten. Unschätzbare Zeichen der Zuneigung. Barenboim war gekommen und spielte ein Schubert-Impromptu. Bürgermeister Wowereit, dann die Laudatio von Lepenies. Das Publikum erhob sich. In gewissem Sinn erhob auch ich mich zu meiner eigenen Ehre. Dann verließ ich mich selbst und spürte nur noch Verlegenheit. Ich ergab mich in alles, akzeptiere meine Wehrlosigkeit. Ich fürchte, ungerecht zu sein und Leute zu verletzen, die ich nicht verletzen sollte. Ich bin der Willkür ausgeliefert. (Ohne Genitiv)
10 . September 2006 Der Wind schlägt Purzelbäume. Über allem, wie ein Dimenti, hartes Sonnenlicht.
12 . September 2006 Gestern das ominöse Datum. Es ist Nacht. Abendessen im Adlon auf Einladung des Parlamentspräsidenten. Ich komme mit meinem Leben nicht mehr mit. Daß ich im Bundestag lesen soll, ist mehr als phantastisch: Ich weiß nicht, ob es nicht unsinnig ist. Mein ganzes Leben ist ein Kriegsschauplatz meines Kampfes mit den Ämtern; und da gehe ich hin, um an einem staatlichen Feiertag vor den Abgeordneten zu lesen. Inkonsequenz zieht Strafe nach sich. Mein Dasein wird eine immer schwierigere Aufgabe.
16 . September 2006 Nachts um zwei von meinem eigenen Geschrei erwacht. Volle Tage; eine angenehme Bekanntschaft: Isenschmid, Redakteur der
NZZ
am Sonntag
.
Dossier K.
«raschelt». Anruf von Andreas Breitenstein, mit seinem Schweizer Akzent urteilt er: «Großartig!» – Ich hetze mich ab. Die endgültige Loslösung von Ungarn. M.s schwierige Situation: Ich habe sie hierher, ins Nichts, geholt. Aber schließlich ist sie meine Frau, und vielleicht ist es kein Vergehen, daß ich sie bei mir haben möchte. Zurück zu meinem Traum: Ich erinnere mich, daß es ein echter Alptraum war, ein Alptraum kurz vor dem Tod, eine perverse Geschichte, die ich am Tag im Wachzustand niemals erfinden könnte.
19 . September 2006 Gestern abend die Premiere von
Dossier K.
im Wissenschaftskolleg. Warme Ovationen. Mehr kann ein Schriftsteller nicht erleben.
23 . September 2006 Unentschlossenheit. Wie ein gelangweiltes Kind frage ich: Was soll ich machen? Meine Antwort:
Die letzte Einkehr
.
27 . September 2006 Europa erlebt ohne Zweifel wieder eine seiner schmachvollsten Epochen. Die Deutsche Oper in Berlin hat Mozarts
Idomeneo
vom Programm genommen, weil die Handlung, so wörtlich, den Islam verletzen könnte.
1 . Oktober 2006 Diese Seifenoper, mein Tagebuch, fortführen. Das Schicksal will, daß ich mich immer in meinen schlechtesten Stunden an den Computer setze; der Tagebuchtext erweckt nicht den Eindruck des Außergewöhnlichen, wie, sagen wir, das
Galeerentagebuch
. Aber er verfolgt eine Geschichte – oder nennen wir es besser den Ablauf eines Geschehens, und das reicht im Grunde genommen.
2 . Oktober 2006 Die ungeschminkte Wahrheit: Ich bin ein hinkender Greis geworden. Und neben mir M. – so erschütternd. Ich habe sie mit der deutschsprachigen Umgebung in eine schwierige Situation gebracht. Das gestrige Abendessen bei Grünbeins. Da existiert noch ein sogenanntes geistiges Milieu; wie Tantalus sitze auch ich an der Tafel, nach der mir oft unzugänglichen
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