Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Abgrund der Besitzlosigkeit gestoßen wird. Ich versuche, mit meinen unzeitgemäßen Privatproblemen zu kämpfen; in mir und um mich Niedergang, merkwürdige Beklommenheit, kleine und kleinliche Angelegenheiten, Emotionen, mit hängendem Kopf mutloses Warten im Vorzimmer des Todes …
5 . August 2006 Ich glaube, der vorgestern notierte Gedanke über das Verhältnis von Tod und Lebensphasen wäre ein guter Anfangssatz für einen Roman. Ja, die Sehnsucht in mir wird immer stärker, noch einmal, nur ein einziges Mal einen Roman zu schreiben. Einen hübschen kleinen.
Die letzte Einkehr
verliert immer mehr von ihrem Zauber: Erstens möchte ich nicht erneut ein Tagebuch, eine Selbstdokumentation publizieren; zweitens ist der Text, wie er bis jetzt steht, trotz der enormen Materialfülle skizzenhaft und unvollständig. – Also: «In jungen Jahren stehen wir in einem dramatischen Verhältnis zum Tod, später treten wir in eine philosophische Beziehung zu ihm, im Alter hingegen wird er zur Realität, zu einer einfachen praktischen Frage.» Und alle drei Stadien erfordern einen jeweils eigenen Stil.
6 . August 2006 In mir hat ein Roman den Kampf um sein Entstehen aufgenommen. Noch gibt es keine Geburtswehen, nur ein sachtes, zögerliches Abtasten … Es ist früher Morgen, vier Uhr. Seit drei Tagen ist es kalt in Gstaad. Die Berge sind von Nebel verdeckt, dann erhebt sich auf einmal ein schneller Wind, und als öffne sich ein Theatervorhang, treten mit eiligem Rauschen Formen und Farben hervor.
14 . August 2006 Immer noch Gstaad. Es gießt in Strömen. Ich habe alle meine Pläne verworfen. Die Welt bereitet sich auf die Vernichtung Israels vor und bald auf die Ausrottung des übrigen Judentums. Ich sterbe – auch unabhängig davon – in absehbarer Zeit. Es tut mir leid um mein Werk, das dann verlorengehen wird … Dieses Tagebuch … und auch all die anderen, alles. Ich habe alles falsch gemacht. Ich lebe stupide. Gestern in Rougemont (Ausflug mit den Koralniks), in einem kleinen Gasthof am Ende der Welt stand ein Schweizer Ehepaar von seinem Tisch auf, um mich zu begrüßen – die Frau hatte mich erkannt. Meine Bücher hätten sie berührt. Ich habe einmal Bücher geschrieben, die die Menschen berührten …
15 . August 2006 Gstaad. Die gestrige Nacht mit M. – Anruf von Andreas Breitenstein, ob ich der
NZZ
ein Interview geben würde. Ich sagte, ich könne nichts als eine einzige knappe Bemerkung machen: Eben jetzt werde der zweite Holocaust vorbereitet, dem Europa ebenso tatenlos und mit der gleichen heimlichen Sympathie zuschauen werde, wie es seinerzeit Auschwitz zugeschaut habe. Ich sähe ein, das sei nicht gerade ein erbauliches Interview, aber ich könne nichts anderes, nichts sonst und vor allem nichts Besseres sagen.
17 . August 2006 Gstaad, morgens 4 Uhr 12 . Gestern abend die Fernseh-Hinrichtung des Schriftstellers G. G. Grauenhaft, wenn auch beinahe gerechtfertigt. Unter dem Eindruck dieser Szene las ich den eingeschobenen Roman in
Fiasko
; ich hatte dieses Material schon so lange nicht mehr gesehen, daß der Text – ein erschütternder und großer Text – fast fremd auf mich wirkte. Warum wird diese erschreckende Geschichte, diese bis an die Wurzeln vordringende, prächtige Analyse nicht gelesen, nicht gemocht? Aber sei es drum; ich lockere meine Beziehungen zu Budapest immer mehr. Breitenstein bemerkte, er habe gehört, daß auch
Dossier K
. «zu Hause» «unfreundlich» aufgenommen worden sei.
18 . August 2006 Neue Bekanntschaften, Vesper in den Bergen. Nachrichten aus Ungarn: Gehässige Reaktionen auf mein unlängst erschienenes Interview in
ÉS
. Noch anzumerken, daß niemand meine Bücher liest, auch meine treuesten Anhänger nicht. Diese Bücher existieren umsonst, so wie ich selbst.
«Man wird mich schwer davon überzeugen können, daß die Geschichte des verlorenen Sohns nicht die Legende dessen ist, der nicht geliebt werden wollte …» Man wird mich schwer davon überzeugen können, daß die Geschichte Lóts nicht die Legende dessen ist, der nicht schuldlos bleiben wollte …
24 . August 2006 Über allem der Geist der Vergänglichkeit … Kälte umweht mich, Kälte ist um mich, Kälte ist in mir, in meiner Seele, meinen Eingeweiden … Mein erkaltetes Herz fröstelt … Es ist Nacht, und jetzt wird es immer, in alle Ewigkeit Nacht sein.
2 . September 2006 Berlin. Die Zeit … Wie schade um mich! – Stunden später (morgens Dreiviertel sechs):
Dossier K.
beginnt zu
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