Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
ich Einblick in eine Schriftsteller-Existenz – meine eigene, aber das ist gleichgültig – und war erschüttert zu sehen, wie alles quasi ausgebreitet daliegt, den Trophäen einer tropischen Großwildjagd gleich …
28 . Mai 2007 Ittinger Musikfestival, Lesung mit András Schiff; charismatische Wirkung, tausendfache Liebesbeweise, in Wort und Tat. Spätes Abendessen mit Litwin und Michael Gielen. Ich gehöre zu einer Kultur (der großen westlichen Kultur), deren Sprachen ich nicht spreche. Paradox. Und peinlich. M. kämpfte mit einer Grippe. Der inspirierende Stachel von
Ein Irrglaube
, obwohl es nicht genug «Material» dafür gibt. Quälerei mit den Alterssymptomen. Danach kam ich nach Berlin zurück, als kehrte ich heim. Was noch? Ergriffenheit, ich versuche die Wirklichkeit meines Lebens zu ermessen …
29 . Mai 2007 Ich sehe keinen Ausweg; sofern es nicht das Leben selbst ist.
2 . Juni 2007 Gestern die sogenannte Europa-Konferenz. Meine Rede.
Jenseits aller Lügen.
[15] Es wurde geklatscht und weiter gelogen. Einige interessante Gestalten. Der junge Mann, der mich fragte, wie ein Mensch Schriftsteller wird. Ich antwortete, wenn in seinem Kopf Sätze herumzuschwärmen beginnen, die, sobald er sie niederschreibt, anders aussehen, als er es sich vorgestellt hat. Er verbessert ein, zwei Zeilen, ein paar Sätze – das heißt, er nimmt den Kampf um den Ausdruck auf, und dieser Kampf promoviert ihn dann zum Schriftsteller.
4 . Juni 2007 Früher Morgen. «Wenn jemand liebt, verleiht er auch die Fähigkeit, zu lieben.» Oder: «Wenn du jemand liebst, verleiht er dir auch die Fähigkeit, zu lieben.» (Sinnlos.) Baden-Baden. Meine Füße hinterlassen komische Zeichen im Staub. In mir nistet sich ein sonderbares Wissen ein: Die Zeit ist gekommen, ich werde sterben …
13 . Juni 2007 Eigentlich ist der Nobelpreis widerwärtig, auch wenn er eine Lösung für mein Leben war. – Ich versuche es weiter mit der
Letzten Einkehr
; jetzt mit einer reduzierten – bis zum äußersten reduzierten – Fassung. Bin nicht überzeugt.
14 . Juni 2007 Berlin. Gestern erhielt Norbert Lammert, der Bundestagspräsident, in der Ungarischen Botschaft eine Auszeichnung. Während seiner Dankrede wandte er sich überraschend zu mir und sprach wenigstens fünf Minuten über mich und meine Literatur. Als wolle er sagen: Wenn ihr Kertész etwas tut, kriegt ihr es mit mir zu tun.
16 . Juni 2007 Ich klaube die letzte Ernte zusammen … Wie Rilke in den
Duineser Elegien
. – Eben nicht.
17 . Juni 2007 Mein Leben: Rendezvous mit dem Tod. Ich bin in jeder Hinsicht verunsichert. Nachlassende Libido. Geschwollene Beine, schwerfällige Bewegungen. Als ich neulich nach dem Konzert in der Philharmonie auf der Treppe zum Ausgang stolperte, bemerkte ich das Entsetzen auf dem Gesicht des Mannes neben mir: Er erwartete jeden Augenblick, daß ich fallen würde, und dieses Gefühl hatte ich auch.
21 . Juni 2007 Es scheint, als habe vorgestern im Morgengrauen etwas begonnen (
Sonderbar
) … Als habe sich heute am frühen Morgen etwas fortgesetzt (
Sonderbar
), falls nicht der Drucker den Dienst versagt …
22 . Juni 2007 Rückenschmerzen. Er wäre gut,
Sonderbar
fortzusetzen. (Oder vielleicht eher
Sonderberg
?) Gestern erneute Anfälle von Irrationalität. Es wird von mir verlangt, mich wie ein Verrückter zu verhalten. Ein verheirateter Philosoph gehört in die Komödie. Und im Alter von achtzig Jahren habe ich keine Zeit mehr für dumme Späße.
24 . Juni 2007 Noch immer glaube ich nicht, daß der Text, mit dem ich mich einfach selbst überrascht habe, tatsächlich gut ist und die Lösung bedeutet – das heißt Schreiben bedeutet, Arbeit bedeutet, Glück bedeutet. Unzweifelhaft dagegen, daß
Die letzte Einkehr
, der ich schon wer weiß wieviel Zeit gewidmet habe (Jahre, lange Jahre), kein guter Plan ist. Einerseits wieder Tagebuchform, der ich überdrüssig bin und die ausgeschöpft ist, andererseits zu düster in der Stimmung, was letztlich unbegründet ist.
26 . Juni 2007 Morgens halb sechs. Habe mir die
Mondscheinsonate
angehört, von András gespielt. In der Nacht so gut wie gar nicht geschlafen. Sinnlich unerfüllt. Der Rücken schmerzt, ebenso die Stelle meiner nicht mehr vorhandenen Gallenblase.
5 . Juli 2007 Mein Leben ist ein dem Hauptsatz untergeordneter Nebensatz. Und wer sagt diesen unverständlichen Hauptsatz in diesem klangvollen Ton?
10 . Juli 2007 Gstaad. Seit Samstag, also dem 7 .,
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