Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Oktober in Berlin. Magda in Budapest, bei ihren vier Enkeln. Bankrott, Bankrott, in jeder Beziehung. Die ersten Seiten des Romans wieder verdorben. Dazu die Familie als Lebensform. Impotenz, mangelnde Libido.
19 . Oktober 2007 Tödliche Gespräche mit M. Im Licht dessen klar meine absurde Situation erkennen – daneben auch die ihre. Mit Hilfe meiner Arbeit habe ich das Land hinter mir gelassen, in dem ich in keiner Weise geschätzt worden bin, in dem ich keinen Platz hatte, in dem ich vom ersten Augenblick an im Schatten des Todesurteils lebte. Ich habe den Literarischen Welthauptgewinn erhalten – meine Freiheit gewonnen und die Möglichkeit, in der westlichen Zivilisation zu leben … Und nun setzt M. wegen ihrer Familie, und weil sie sich nicht wohl fühlt in diesem Land, alles daran, daß ich in diese geistige Schlammgrube zurückkehre, in unsere nur wenige Schritte von der Familie entfernte Wohnung – obgleich es gerade der Stolz meines Lebens ist, diese Korruption, die man mit anderem Namen Familie nennt, vermieden zu haben. Ich würde Großvater von vier Kindern sein, mit grauem Bart, der die Enkel auf Spielplätzen hütet … Dieses Schicksal ist mir zu umgehen gelungen, und man zerrt mich dahin zurück. Andererseits ist auch M. zu verstehen.
24 . Oktober 2007 Harte Tage. Doch nun scheinen M.s Akklimatisierungsklagen nachzulassen. – Der Roman unter meinen Händen erneut ruiniert: Ich habe die Komposition vergessen und komme dadurch mit der rhythmischen Länge der Sätze nicht zurecht. Aufpassen, da gibt es kein thematisches Voranschreiten, auch keine Handlungsverwicklung, da gibt es nur eine einzige, möglichst statische Situation, jene vier, fünf Tage, bevor die Krankheit zum Ende von Sonderberg führt; aus dieser Perspektive muß sich der Gang des Romans herstellen; ein sich in Schwerelosigkeit verwandelndes Schweben: Niemand will da irgend etwas.
27 . Oktober 2007 Ich wandle im Vorzimmer des Todes … Am Abend Mahlers
Neunte
in der Philharmonie mit den Berliner Philharmonikern und Sir Simon Rattle.
6 . November 2007 Das ist nicht die Zeit für Tagebücher. Schwere (physische) Kämpfe, Krankheit, Liebesbeweise (Stockholm, Barcelona), tödliches Ringen mit dem Roman, bis ich den Text heute nacht: heureka! heureka!, als endgültig (und groß angelegt) ansehe. Es ist nachts 3 Uhr 42 . Ich gehe schlafen.
16 . November 2007 Der Kollaps hat vor einigen Monaten mit den Rückenschmerzen begonnen. Ich hege keine Zweifel, daß ich diese Schmerzen nun bis zum Grab mit mir schleppen muß. – Unendliche Traurigkeit. Tag für Tag gewahre ich den unaufhaltsamen Verfall. Mit dem Armbruch fing es an. Inzwischen kann ich mir nicht mehr die Hose hochziehen. Der geistige Abbau spiegelt sich in meinem Verhältnis zu den Dingen, zu den Menschen wider. Ich glaube, ich liebe niemand. Und auch mich liebt niemand. In der Nacht, am Morgen kann ich kaum noch aus dem Bett kriechen. Usw. Nie hätte ich geglaubt, daß es so schnell geht …
20 . November 2007 Nichts wirklich hinzufügen; immer das gleiche. Früher Morgen, mittags fliegen wir nach Stuttgart. Der Roman – beziehungsweise das, was ich so nenne – entwickelt sich recht schön. Aber ich weiß ja nicht, wann ich alles aufgeben muß, noch dazu unvollendet.
25 . November 2007 Aus Stuttgart zurück; unterwegs wurde Magda in dem schaukelnd dahinrasenden Zug übel; unverschämte Gleichgültigkeit des ostdeutschen Personals; bei Nürnberg Wechsel, neues Personal, menschliche Gesichter, umgehende Hilfe. – In letzter Einkehr sitze ich am Manuskript der
Letzten Einkehr
: Kann wegen der Rückenschmerzen nicht laufen, und das wird nun auf ewig so sein, das heißt, für die kurze Zeit, in der ich hier noch die Luft verderbe, hier unten, unter den Lebenden …
27 . November 2007 Bin mit einem Freudengefühl erwacht, rasch in mein Büro hinaufgestiegen, habe mit Freudengefühl die schon fertigen Seiten der
Letzten
gelesen und freue mich, freue mich … Was für eine Wendung: Da ist sie also wieder, wenn auch nur auf Besuch, die alte schöpferische Stimmung, die alte Schreibfreude … Mag sein, nur ein flüchtiger Augenblick, trotzdem muß ich davon berichten.
13 . Dezember 2007 Irreale Existenz. Stationen: Lesung und Interviews in Budapest. Zuvor Virusinfekt in Berlin. Das Essengehen. Die Kinder. Unsinniger Kampf mit dem Örkény-Artikel. Der Roman in weite Ferne gerückt, vielleicht verstehe ich ihn gar nicht mehr, wenn ich ihn wieder
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