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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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hervorhole. Trotzdem: das Schreiben ist meine einzige Zuflucht.
    30 . Dezember 2007  Madeira. Wir flattern herum wie flüchtige Schwalben. Gestern abend bei Lammerts. Sir Simons überwältigender Charme. Er lud uns zu Ostern ein.

2008
    5 . Januar 2008  Warum bricht der letzte Satz ab? Bin ich eingeschlafen? Vergaß ich zu speichern? Zeichen rapiden Verfalls überall, in allem. Die ständigen Rückenschmerzen haben meinem Gesicht bereits ihren Stempel aufgedrückt. Die Oberlippe ist irgendwie nach vorn gerutscht, dadurch hängt der eingefallene untere Teil des Gesichts herunter, zwei tiefe Leidensfalten, die meinen schon nicht mehr sinnlichen Mund gleichsam in Klammern setzen … Überdies ist in diesem subtropischen Paradies bei mir ein schwerer, osteuropäischer Rotzschnupfen zum Ausbruch gekommen. Die unlängst begonnene Arbeit stagniert, ich weiß gar nicht mehr, was ich angefangen habe, verstehe meine eigenen Absichten nicht mehr, jede Zeile starrt mich fremd an. Ich habe das Gefühl, im Sturmschritt auf den Tod zuzugehen …
    10 . Januar 2008  Madeira. Nacht. (Langsam sind mir auch meine Nächte schon abhanden gekommen.) Die Qualen des Zusammenlebens. Tage, die sich zum Verzweifeln schnell aneinanderreihen. Fürchte ich mich vor dem Tod? Ich fürchte mich vor dem Leben. – Neue Perspektiven, den Roman (?) fortzuführen … Es ist enorme Kraft zum Fortbestehen nötig, und für die Arbeit so viel, wie – fürchte ich – gar nicht mehr in Reserve ist.
    11 . Januar 2008  Früher Morgen, sechs Uhr. Besser. Gestern das zweite Lot-Kapitel geschafft. Die Eigenartigkeit des Ganzen; vielleicht sollte ich sagen Sonderbarkeit. Ein wenig die Atmosphäre von Camus’
Fall,
aber ohne Moralisieren. Manchmal erwähne ich Beethovens letzte Streichquartette …
    Nachmittag. Abschied von Madeira. In der
Letzten
habe ich eine nicht mehr zu steigernde Ebene des Unpersönlichen erreicht.
    30 . Januar 2008  Todesnähe. Die abendliche Unpäßlichkeit gestern. Ich war plötzlich erwacht – nein, aus einem tiefen Brunnen plötzlich an die Oberfläche gestoßen. Ich wußte nicht, wo ich war, wußte nicht, war es Abend oder Tag. Dann erkannte ich die Möbel meines Berliner Arbeitszimmers. Draußen war es dunkel, die Uhr zeigte neun. Unten im Wohnzimmer schimmerte der Fernsehschirm. Mir kam die Vermutung, es könnte eher Abend als Morgen sein. Ich schleppte mich die Treppe hinunter. Magda schaltete am Fernseher herum. Ein, zwei Minuten wagte ich nicht, etwas zu sagen, war noch immer nicht sicher, ob es Abend oder Morgen war. Schließlich schien Magdas Aufmerksamkeit nachzulassen. Da öffnete ich den Mund und fragte sie, in welcher Tageszeit wir uns befänden. Sie sah mich etwas erschrocken an. Ich bekannte, daß ich mich nicht hinauswagte und nicht wisse, welchen Tag und welches Datum wir hätten. Daß ich ernstlich glaubte, nicht lebend hier herauszukommen. Nach und nach stellte sich das Gleichgewicht wieder ein, aber den ganzen Abend und eigentlich noch jetzt, in dieser schwankenden Nacht Ende Januar, denke ich ernsthaft, ich sei schuldig und sie werden bald mit der Rechnung kommen.
    14 . Februar 2008  Der Tod zieht, zieht und zieht … Tiefe Müdigkeit, Schmerzen. Ich kann nicht laufen. Die Lebenslust verfliegt. Nichtsdestotrotz stehen zwei Kapitel von der
Letzten
. – Soviel ist als Chronik genug. Wenn ich weiterdenke, breche ich in Tränen aus.
    20 . Februar 2008  Unbeschreibbare Tage. Computer-Austausch und die damit verbundene Aufregung. Meine Manuskripte geraten durcheinander: die Dateien, die Papiere, wie Szomory sagen würde: Was weiß ich!
    27 . Februar 2008  Jeder Tag ein neuer Tod. (Meine Beine; der Aufstand des Computers; der Ruhm als unabweisbarer Ballast; Gewicht abzuwerfen ist nur aus der Schatzkammer möglich, also durch Selbstverstümmelung; und so fort.) Am Abend Barenboim: Er möchte unbedingt das Opern-Libretto von mir. Wir hörten Verdis
Requiem
von ihm, zweimal. Ein großartiger Herr über sein Orchester. Beim zweiten Hören trat die Schwäche des Werkes hervor; vielleicht kam auch der öde Veranstaltungsort – das Konzerthaus – dazu: Pauke und Trompeten wirkten wie grelles Kindertheater auf mich – wenn du böse bist, holt dich der schwarze Mann. Aufrichtig erschien dagegen die südländische Todesangst – plötzlich soll man das Spiel abbrechen und schlafen gehen – nun wartet jede Nacht der Schlaf, der Schlaf …
    7 . März 2008  Und damit breche ich dieses Tagebuch tagtäglicher

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