Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
mich zuweilen aktiv am kläglichen Tätigsein dieses Reiches (Reich im Augustinschen Sinn) beteilige. Die Menschen haben neuerdings eine auffallende Abneigung gegen mich, im Blick der Frauen, in der Art, wie sie mich ansehen, könnte ich genügend Grund zum Selbstmord finden.
Bis zum Ende
21 . März 2009 Nun auch bis zum Ende. Die unvorstellbare Trostlosigkeit des Verfalls. Lieblosigkeit, Beklemmung, Wahnvorstellungen, Verlorenheit. Physischer Abbau (das geschwollene, befremdliche Bein).
Jeden Tag werde ich gefragt, ob ich mir die Hände gewaschen habe, und das an sich ist bereits genug, um mich ständig schmutzig zu fühlen.
8 . Mai 2009 Vorgestern bin ich angekommen; ob ich zum Leben oder zum Sterben hierhergekommen bin (nach Budapest), weiß ich noch nicht. Hochfliegende Worte, andererseits geht es wirklich darum.
16 . Mai 2009 Ein geschmackvoller Mensch, sagt Doktor Sonderberg, würde in seinem Alter schon längst nicht mehr leben …
20 . Mai 2009 So wie «sich gestern still der Herbst nach Paris schlich», könnte auch ich bis auf ein Zeichen, einen Satz, ein Wort genau bestimmen, wann das Alter über mich hereingebrochen ist. Das Leben ohne Libido ist trocken, öde, langweilig. «Glaub mir, auch das Alter hat seine schönen Seiten …» – «Nenn mir nur eine einzige, mein kleines Bélalein …»
23 . Mai 2009 Gestern abend Lesung in der Konrad-Adenauer-Stiftung. Die neuste Dimension der Tragödie. Gesichter, die sich im langsamen Walzer um mich drehten, allen voran das von M. Stockender Atem, verdorbene Pointen, schlechter Vortrag. Die wohlwollende Geduld des Publikums, um mich her lauter Zuneigung. Ich habe begriffen, daß Schluß ist. Schluß. Ich habe keine Kraft mehr, keine Lust. Magda. Das allmorgendliche Sockenanziehen. Wohin ist alles, wohin?
29 . Mai 2009 Ich habe ein «Exit-Tagebuch» eröffnet. Weiß nicht, ob es Sinn hat. Seit einiger Zeit lebe ich in einer Atmosphäre von Depression, meiner eigenen und der anderer. Etwas in mir – und außerhalb von mir – verhindert den Schritt nach vorn. Das Schöpferische.
9 . Juni 2009 Ich muß der grauenhaften Tatsache ins Auge sehen, daß meine Existenz von meiner Angst vor dem Verfall beherrscht wird. Ich habe Angst zu schreiben und schreibe deshalb lieber nicht. Ich tue so, als sammelte ich meine Aufzeichnungen zusammen, in Wahrheit aber starre ich mit angewidertem Blick auf meine Papiere.
11 . Juni 2009 «Der anbrechende Tag fand mich am Schreibtisch», könnte ich schreiben, in jener gewöhnlichen Sprache, welche die sogenannte Literatur benutzte, solange sie sich selbst für Literatur hielt. Inwiefern und warum hat sich die Sprache verändert? Es lohnt nicht, darüber nachzudenken; sonst käme noch die Wahrheit heraus, und dann käme heraus, daß alles Lüge ist und alle lügen. – Ist die Wahrheit aus verlogenen Sätzen zusammengesetzt? Setzt sich die Wahrheit aus verlogenen Sätzen zusammen? Ist es wichtig, daß die Wahrheit ans Licht kommt? Warum ist es wichtig? Was ist die Wahrheit?
11 . Juli 2009 Ottlik ist ein Fest für die (ungarische) Literatur. Ottlik ist ein Fest für die Menschheit und die Menschlichkeit.
14 . Juli 2009 Morgendämmerung, zerfetzte Wolken verhüllen den grauen Himmel; noch ist nicht alles verloren, noch befallen mich ab und zu die alten bekannten Glücksanfälle.
Exit-Tagebuch
29 . Mai 2009
Ein Mensch mit Geschmack lebt in meinem Alter nicht mehr.
Es ist noch Nacht, halb vier. Gestern habe ich den ganzen Tag mit administrativen Dingen verbracht, nachdem wir gelobt hatten, daß ich die Tage nicht mehr mit administrativen Dingen verbringen werde. Vorherrschende Gefühle: Ekel und Angst.
Naturkunde des Verfalls. Kalt, beinahe schadenfroh schreiben, als Zeuge deiner selbst. Es würde nicht mehr gehen, ich wäre nicht mehr in der Lage dazu.
10 . Juni 2009
Gib’s auf! Das äußerste Verlassensein, das äußerste Ausgeliefertsein läßt sich sowieso nicht beschreiben, ja, noch nicht einmal vorstellen … Gib’s auf! (Heute wäre A.s Geburtstag.)
Die Reste meines geistigen Lebens zusammenkratzen …
7 . Juli 2009
Einverstanden sein mit meinem weiteren Dasein. Was für ein Hochmut! Aber das bedeutet zugleich die Akzeptanz all dessen, was ich heute bin. (Wir empfinden kein Erbarmen gegenüber dem, der wir selbst sind – Valéry?) Vor allem weiter, die Arbeit fortführen. Die neuen Gesichter der Menschen akzeptieren, wenn sie mich ansehen. Im Exil leben. Leben mit der
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