Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
die fünfundzwanzig gewesen sein.
Wir sind unschlüssig, ob wir nach Jerusalem reisen sollen. Reisen wir, reisen wir nicht – jede Wahl ist schlecht, sagt M., und sie hat recht. Feige Reißaus nehmen oder mitten in den mörderischen Wahnsinn hineingeraten, wo man uns ohne weiteres in die Luft sprengen könnte. Während ich genau weiß, daß mein einziger, heimlicher Wunsch wäre, hier zu bleiben, weil ich dann ohne Unterbrechung am Roman weiterarbeiten könnte. Ein egoistischer Gesichtspunkt? Ja.
5 . April 2002 Früher Morgen, 2 Uhr 51 . Der Bettler wirkt jeden Tag erschöpfter; er hockt am Eingang von Mayers Delikatessengeschäft, als würde er jede Nacht verprügelt (was natürlich möglich ist). Auf seinem Gesicht macht sich die Abstumpfung durch Leid bemerkbar; am liebsten würde ich ihn ansprechen, etwas Ermutigendes, ein paar freundliche Worte sagen, ich spüre, daß es das ist, was er am nötigsten hätte. Ich habe Angst um ihn. Hoffentlich geschieht ihm kein Unglück.
Irene Dische bringt die schwersten Argumente vor, um uns von der Reise nach Jerusalem abzuhalten. Einen Tag nachdem sie uns überzeugt zu haben schien, klingelt das Telefon: Ein Redakteur der
Zeit
meldet sich. Er habe meine Telefonnummer von Irene Dische erhalten und von ihr gehört, daß wir nach Jerusalem reisten – falls es so sei, würde er gern ein paar Seiten von mir über meine israelischen Eindrücke publizieren.
Ligeti hält es für Feigheit, wenn wir von der Reise Abstand nähmen. Gestern David Grossmans schöner Artikel in der
FAZ
. Wenn ich strenge Selbstprüfung halte, berühren mich diese Fragen eigentlich kaum. Ich gehe die ganze Zeit davon aus, daß wir nach Budapest zurückkehren, daß ich dort, völlig überflüssigerweise, meine Stimme abgebe und wir zwei Tage später nach Jerusalem fliegen. Nur um M. mache ich mir Sorgen. Die einzige Frage ist in Wirklichkeit, ob ich nicht allein reisen soll. Aber davon will sie nichts hören. Entweder zusammen oder gar nicht. Gestern konnte ich ihren Worten schließlich entnehmen, daß sie eher für die Reise ist. Ich fragte, ob sie etwa ein schlechtes Gewissen hätte, wenn wir nicht führen. Sie würde es einfach als das sehen, was es sei: als Verrat, sagte sie. Den könnte sie uns nur schwer verzeihen. Ich stimme mit ihr überein. Von hier aus läßt sich sehr schwer beurteilen, was wirklich vor sich geht. Mich interessiert auch nicht die israelische Seite, viel eher die Reaktion Europas. Aus dem Sumpf des Unbewußten blubbert wie stinkende schweflige Lava der über viele Jahre im Zaum gehaltene Antisemitismus wieder hoch. Weltweit anti-israelische Kundgebungen. Eigentlich dürfte man es sich nicht gestatten, von den Ereignissen mit dem gleichen Vokabular zu reden, das die Zeitungen für sie gebrauchen. Daß sich junge Menschen mit der größten Lust selbst in die Luft sprengen, gibt zu erkennen, daß es um etwas ganz anderes geht als darum, ob sich ein palästinensischer Staat konstituiert. Diese Selbstmörder offenbaren sich als Verlierer des Daseins. In ihren Taten kommt eine Verbitterung zum Ausdruck, die mit nationalistischen Affekten nicht zu erklären ist. Überhaupt müßte man den Bereich an den Verstand gerichteter Worte verlassen. Wie ist zu verstehen, daß es in Argentinien (!) zu anti-israelischen Kundgebungen kommen kann? Doch wohl nur so, daß sich die seit ca. zweitausend Jahren andauernde Judenfeindlichkeit zum Weltbild verfestigt hat. Der Haß hat sich zum Weltbild verfestigt, und Gegenstand des Hasses ist ein Volk, das sich auf keinen Fall vernichten zu lassen gewillt ist. Nehmen wir an, daß es in der islamischen Kultur einen größeren Hang zum Fanatismus gibt als anderswo; diese ausweglose Wut aber richtet sich nicht mehr gegen die Menschen, sondern gegen die Götter. Im sanften Licht Jerusalems, an goldenen Abenden, zwischen den malerischen, mit Olivenhainen bedeckten Hügelketten, habe ich auf einer früheren Jerusalem-Reise schon einmal, eher mit den Sinnen als mit dem Verstand, begriffen, warum die Götter gerade hier geboren sind. Jetzt müßte ich begreifen, warum man sie hier mit einer exhibitionistischen Passion für blutige Menschenopfer ermordet. Ich gestehe, ich begreife gar nichts, und am wenigsten glaube ich, daß das alles nur eine politische Frage ist. Doch es kann auch sein, die Politik ist darauf ausgerichtet, daß ich es nicht nur als eine politische Frage sehe, und ich falle nur auf eine Manipulation herein; aber während Millionen auf
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