Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
traurig saß er an seinem üblichen Platz, in Bluejeans und feiner Lederweste. Metaphysische Kränkung und physisches Elend spiegelten sich auf seinem Gesicht; all das kann zweifellos mit seiner Verletzung zusammenhängen. Heute sah ich ihn nicht auf seinem Platz.
Im Hauseingang ein Aushang: Im Nachbarhaus sei heute morgen um vier Uhr ein Einbruch versucht worden, was nicht hätte vorkommen können, wenn die sehr verehrten Nachbarn das Haustor anständig abschließen würden und auch alles sonst, was abzuschließen sei. Beim Hinaufgehen sah ich, wie P. bei meinem Türnachbarn klingelte und sich aufgeregt nach dem Vorfall erkundigte; der Nachbar wußte jedoch ebensowenig wie ich. «Erst schießen, dann fragen», gab er mit seinem amerikanisch gefärbtem Deutsch auch mir zu bedenken. Ich sagte, ich besäße keine Pistole. Das hielt er für einen Fehler. Er und D., seine Frau, sind die beiden schrägen Vögel im Haus. Mich ergriff ein anheimelndes Gefühl – ich fühlte mich wie 1944 , als die jüdischen Nachbarn zusammenhielten und sich gegenseitig Gefahr signalisierten. Dabei hatte ich überhaupt nicht das Gefühl von Gefahr.
Ich bin neugierig, ob der Bettler morgen wieder da ist.
27 . März 2002 Gestern nacht hatte ich ein Schlafmittel genommen und mich nach drei, vier Stunden Schlaf morgens um sechs mit großer Arbeitslust an den Computer gesetzt. Ich machte mir einen Kaffee und – das war der Fehler – rauchte eine Zigarette. Davon wurde mir übel, Schweiß brach aus, ich mußte mich wieder hinlegen und schlief sofort ein. Gegen 11 stand ich schließlich auf, schaffte am Vormittag aber kaum ein paar Zeilen, das war meine ganze heutige Arbeit. Danach nur Durcheinander, Telefonate, Zeitverschwendung. Jetzt ist es abends halb neun. Ich probiere einiges aus. Düstere Aussichten. Langsam, fühle ich, überkommt mich Paranoia, wie immer, wenn ich allein bin und die Arbeit nicht läuft. – Der Bettler saß nachmittags an seinem Platz, er wirkte traurig und – im wahrsten Sinne des Wortes – niedergeschlagen. Unsere Stimmungen standen in äußerstem Einklang miteinander.
28 . März 2002 Ein großer Tag: Magdas erste Untersuchung seit der Chemotherapie:
negativ!
Sie telefonierte die gute Nachricht aus Budapest durch – mir fiel ein Felsbrocken vom Herzen.
Überdies: Durchbruch beim Roman. Am Abend hatte ich ein Schlafmittel genommen und war um 12 Uhr zu Bett gegangen, heute morgen stand ich um sechs Uhr auf, setzte den Text bei den gestern begonnenen Zeilen fort und schrieb etwa drei Seiten. Ich glaube, Keserűs Monolog hat meine Gedanken entwirrt; der Roman funktioniert wieder.
3 . April 2002 Morgendämmerung. Abgrundtiefe Müdigkeit. Der Roman läuft. Seit Magda hier bei mir in Berlin ist, sitze ich jeden Tag etwa vier Stunden am Computer; nach ein paar Stunden Arbeit lege ich mich wieder hin und versuche, noch ein wenig zu schlafen. Im ganzen schlafe ich täglich drei, vier Stunden, und das schon seit Wochen.
Der junge Berliner Taxifahrer. Ob ich in Berlin zu Besuch sei? Nein, ich lebe mehr oder weniger hier. Wie mir die Stadt gefällt? Sie gefällt mir, weil sie die am wenigsten deutsche Stadt Deutschlands ist. Weil sie eine gute internationale Atmosphäre hat und man auf den Straßen die unterschiedlichsten Menschen sehen kann, weil es im «klassischen» West-Berlin, hier in Charlottenburg, wo ich wohne, friedlich ist, die Menschen zu Ostern auf den Kaffeehausterrassen sitzen und Zeitung lesen, ruhig und still, und wenn der Wind weht, der Duft von Frühling und von Freiheit zu spüren ist. Er entgegnete, daß viele alte Berliner gerade das, was ich lobe, beklagten: nämlich, daß das alte Berlin verschwunden sei, daß es zu viele Fremde gebe, das Leben immer teurer werde usw. Ob ich schon im Wedding gewesen sei? Nein. Die Frage wunderte mich, weil ich nicht verstand, weshalb ich gerade dort gewesen sein sollte (unsere Gastgeber, zu denen wir zum Abendessen fuhren, erklärten uns dann, daß der Wedding das türkische Harlem Berlins sei). Schließlich erkundigte sich der Taxifahrer nach meinen Beruf und wollte dann wissen, ob etwas auf Deutsch von mir erschienen sei. Als ich meinen Namen nannte, stellte sich heraus, daß er das
Galeerentagebuch
liest. «Eine schwere Lektüre», sagte er, «aber Sie scheinen ja heiter zu sein.» Ich versicherte ihm, ich sei tatsächlich
heiter
. Das begrüßte er. So solle es auch sein, sagte er, als wir uns zum Abschied die Hand gaben. Der Junge wird um
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