Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
einen Sinn ergibt und die in ganz Europa einzigartig ist. Die Leute halten starrsinnig an ihrem Verhängnis fest und werden wahrscheinlich bankrott gehen, ohne zu verstehen, warum. Das ist in diesem Land immer so gewesen, und darin besteht vielleicht jener gewisse Fatalismus; auf andere Art würde ich es Mangel an europäischer Intelligenz nennen.
Das Manuskript habe ich noch nicht hervorzuholen gewagt.
25 . März 2002 Um zwei Uhr mittags habe ich es dann doch herausgeholt. Das Ergebnis ist zum Verzweifeln, ohne daß ich in Verzweiflung verfiele. Wie kann das sein? Als hätte ich die Fähigkeit verloren, meine Sätze zu beurteilen. – Egal. Plötzlich kam mir die Idee, ich müßte Keserű sprechen lassen. Die Frage ist, ob das ein Stilbruch wäre. Sei’s drum, die Geschichte – sowohl die eigene, als auch die von B. – sollte von ihm erzählt werden. Mit der Erzählung konfrontiert, versucht er, sich die Geschichte zurückzuholen. Aber wie viele sollen es noch sein, die in dem Roman ihr Leben erzählen? Das stört den natürlichen Ablauf, die Konstruktion wirkt gekünstelt bzw. die Komposition konstruiert; ein natürlicher Ablauf sieht nach Lebensnähe, das ständige Dazwischenreden dagegen nach Ungeschicklichkeit des Autors aus; ich weiß nicht, was ich tun soll. Es ist vier Uhr nachts. Bald wird es dämmern.
Vor kurzem habe ich im Fernsehen ein peinliches Gespräch verfolgt, das mir klargemacht hat, wie die führende intellektuelle Elite denkt. Sloterdijk, Peymann, Safranski und ein deutschstämmiger Amerikaner unterhielten sich über Lage und Zustand der Welt, in erster Linie über die Ereignisse in Afghanistan, über das amerikanische «Reich», das sie mit Rom verglichen. Vor allem Peymann tat sich durch Unverfrorenheit und Unwissenheit hervor. Denn worin sollte eine Ähnlichkeit zwischen Rom und den Vereinigten Staaten bestehen? Und von welchem Rom ist die Rede? Von dem Cäsars? Oder dem Konstantins? Im Laufe des Gesprächs klagte er Amerika auf das unverschämteste wegen der Ereignisse an, und – natürlich – Israel. Überlegenes Lächeln; das überlegene Lächeln der europäischen Kultur über das brutale Amerika. O Deutschland, das seine moralische Überheblichheit wiedergewonnen hat. Wie schön. Mir wird klar, daß die von Hitler begonnene Arbeit mit Hilfe der Europäer vollendet werden wird: die Vernichtung der Juden, und diesmal wird es kein Erbarmen und kein Entkommen geben. Als zöge sich der rote Faden der Weltgeschichte an immer neuen Stationen entlang zum großen Ziel der Judenvernichtung.
26 . März 2002 Die ungarische Ausgabe von Thomas Manns Tagebüchern ( 1940 – 55 ) gelesen. Nach meiner Überzeugung ist die Ausgabe tendenziös – die Auswahl bringt kaum etwas Persönliches, dagegen führt sie permanent den täglichen Kommentar des Autors zum politischen Zeitgeschehen an: als sei sie unter Aczél im Sozialismus herausgegeben worden. Und weil diese Reflexionen in der McCarthy-Ära die Vereinigten Staaten zwangsläufig kritisieren, entspricht das alles quasi den neuesten Bedürfnissen sowohl der Sozialisten als auch des heutigen europäischen Rechts-Links-Gemenges; schrecklich.
Heute kam ein ganz und gar nicht attraktiver Vertragsentwurf meines deutschen Verlages. Augenscheinlich habe ich die mit kindlicher Launenhaftigkeit verteilte Gunst des unsteten alten Mannes verloren. Nach anfänglichem Ärger eher so etwas wie Erleichterung. Das Gefühl der Freiheit, egal, welchen Preis wir dafür zahlen, geht immer mit Freude einher.
Ich überdenke die neue Idee: Keserű in der ersten Person Singular. Das hätte stilistische Konsequenzen zur Folge; und ich würde den Anfang nur ungern ändern. Zudem ginge dem Text Ironie verloren, denn der Ich-Erzähler müßte ernst genommen werden. Andererseits ist das Ganze bisher vielleicht nicht ernst genug genommen worden. Jedenfalls ist das, was fertig ist, pure Konstruktion; es mangelt ihm ganz unerträglich an Leben. Ich lese dazu Sebalds
Austerlitz
, in dem ebenfalls die Beobachtungen eines Fremden und die langsame Entfaltung der Ergebnisse dieser Beobachtung dargestellt werden. Bei mir kann sie leider nicht so langsam vor sich gehen. Folglich auch nicht so schön sein. Sebald hat im übrigen, wie ich sehe, viel von Bernhard gelernt.
Heute habe ich einen Berliner Drucker für die Berliner Wohnung gekauft.
Dem Bettler blühte gestern ein Veilchen im Gesicht, direkt unter dem rechten Auge. Es war auch etwas geschwollen. Ungewöhnlich
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