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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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diese Manipulation hereinfallen, verwandelt sich der Charakter dieser Manipulation, und einige denken plötzlich allen Ernstes, daß ihr Wahnsinn nicht von äußeren Mächten eingegeben ist, sondern aus ihnen selbst hervorbricht: Und da beginnt das irreparable Übel.
     
    6 . April 2002  Panik. Angst vor der morgigen Heimkehr. Angst vor Budapest. Angst vor den Aufgaben, die mich erwarten und mich weit abtreiben vom Roman. 1 . Vorwort zum
Spurensucher
. 2 . Vorwort zum Drehbuch. 3 . Vortrag für das Kulturwissenschaftliche Institut in Düsseldorf. In erster Linie aber: der Israel-Bericht für die
Zeit
.
    Ich fühle mich an die Grenze meiner Belastbarkeit getrieben, an den Rand des Zusammenbruchs. Dazu heute noch der unsinnige Besuch mit einem Kleinkind (Kinder sind für mich einfach nicht zu ertragen), während des Packens bzw. statt dessen, nur um mich noch um die Möglichkeit von zwanzig Minuten Nachmittagsschlaf zu bringen.
     
    8 . April 2002  Der amerikanischen Redensart «Die Mehrheit hat immer recht» habe ich immer entgegengehalten: Die Mehrheit hat niemals recht. Bei den gestrigen Wahlen hatte sie dennoch recht, und zwar in einem Maß, daß mir ein großer Stein vom Herzen gefallen ist.
     
    17 . April 2002  [Budapest] Vom 9 . bis 11 . des Monats in Israel bzw. Jerusalem. Über das Ergebnis vom 12 . bis 15 . den Artikel
Jerusalem, Jerusalem …
geschrieben. All das hier nur der Chronologie halber. Maßlose Müdigkeit.
     
    Die Wähler sind wie die Fans in den Sportstadien; andernorts brechen in solchen Arenen in der Masse (nationale) Emotionen auf, die dann im politischen Leben keine Rolle mehr spielen und auch nicht spielen können. Der Wettkampf wirkt wie ein Ventil, durch das giftige Gase entweichen, die sich dann in Luft auflösen. In Ungarn dagegen bestimmen diese Emotionen das politische, im unglücklichen Fall das nationale Leben; Sieg oder Niederlage einer Baseballmannschaft wird zu einem synonymen Begriff für Sieg oder Niederlage des Landes. Auch wenn die Sache nicht ernst ist, kann man in einem Sportstadion letztlich auch erschlagen werden, der Aufprall eines Baseballschlägers ist schließlich etwas Ernstes: Man kann daran sterben. Der Ernst der ungarischen Demokratie entspricht also dem Ernst eines Baseballspiels, nur die Baseballschläger muß man ernst nehmen.
     
    23 . April 2002  Er sagte: Mein Vater war Fabrikdirektor. Du darfst dir keine große Fabrik vorstellen: Er stellte Tinte her. Vielleicht erinnerst du dich noch aus deiner Kindheit daran, sagte er mit einem fast entschuldigenden Lächeln: Müller-Tinte. Dann wurde er zum Arbeitsdienst abgeholt. Er kam nach Hause, die Fabrik wurde verstaatlicht. Sie steckten ihn in eine Chemiefabrik. Dort hat er von da an gearbeitet. Sein Leben verbracht. Wir haben nie miteinander geredet. Er war irgendwie
stumm
geworden.
     
    27 . April 2002  Der Aristokrat: betrachtet die Musik als göttlich, den Komponisten als Diener.
    Die Demokratie: vergißt den Komponisten, vergöttert den Interpreten.
    Die späte Demokratie: betrachtet Begabung als antidemokratisch.
     
    Drei Tage Kopenhagen. Der große Bankrott Europas. Schöner Feind, häßlicher Freund. Die in liberalen Zeiten ins Land gelassenen Fremden sind inzwischen zur Last geworden; also ist man nach rechts geschwenkt und erwartet jetzt, daß Ordnung geschaffen, das heißt, die Demokratie eingeschränkt wird. Totale Verwirrung und Unsicherheit; der Terror schüchtert Europa ein, und Europa kapituliert vor dem Terror wie eine billige Nutte vor ihrem prügelnden Zuhälter.
    Der seltsame Charme der Stadt. Das Ganze wie in eine Ancien-Stimmung gehüllt. Der schöne nordische Typ, die Frauen; fast mongolisch geschnittene Wangenknochen, die Unterlippe ein klein wenig nach vorn gewölbt, die obere schmaler und länger; der rötlichwarme Ton des Blonds; erotisch – ich mußte einige Male an Z. denken. – Die Gesellschaft am Vorabend unserer Heimreise. Janina, eine polnische Jüdin: In ihrer Kindheit war sie von polnischen Mitbürgern versteckt worden. 1967 wurde sie als «fremdherzige» Jüdin mit «doppelter Heimat» aus Polen ausgewiesen. Sie hatte einen «sozialistischen Touristenpaß» und einige Dollar, damit vagabundierte sie herum, bis sie sich schließlich in Dänemark niederließ. Jetzt übersetzt sie Zbignew Herbert und andere polnische Autoren. Publiziert regelmäßig in Polen. «Ich liebe die Sprache, ich liebe die Polen», sagt sie. Ängstlich und unsicher, wie alle in Europa. – Ein

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