Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
«gemeinsamen» Schmutz beteiligt war? Ist nicht das der Grund meiner Isolation hier? Der naive Kertész … Immer, wenn ich mich mit Intellektuellen unterhielt bzw. unterhalte, könnte ich mich am selben unangenehmen Flohbiß am Rücken oder Bein kratzen – meine ewige Lächerlichkeit, diese gewisse Infantilität gegenüber den
ernsten Erwachsenen
… Mit mir kann man nicht über
ernste
Dinge reden. Denn was ist hier ernst? Korruption, geistiger Verrat, Spitzeltum, die mal «natürlich» sind, mal verurteilenswert, je nach dem augenblicklichen Wasserstand, nur daß ich mir über den nie im klaren bin … Nein, das unabhängige Denken und die Lebensführung, die aus den unerbittlichen Folgerungen dieses Denkens erwuchs, wird man mir hier nie verzeihen. Im Hinblick darauf ist mein Judentum nur ein symbolisches Anhängsel.
24 . August 2002 Diese Nacht wieder die Thomas Mann-Tagebücher, nachdem sie jetzt in einer ungarischen Ausgabe vorliegen. Ich finde es unvermindert attraktiv zu lesen, daß er morgens aufwacht, das Wetter trübe ist, er sich rasiert, einen ordentlichen Anzug anzieht und sich zum Arbeiten niedersetzt. Leider läßt sich der Sprachstil der Tagebücher nicht wiedergeben, weil es im Ungarischen einfach keine grammatikalische Entsprechung für Wendungen gibt wie: «Gingen gleich nach dem Essen hinauf.» Oder: «Am Kapitel. Den Schluß finden!» (Ich wüßte selbst nicht, wie das zu übersetzen wäre:
A fejezeten
oder
A Fejezeten
, aber das ist nackter als «Am Kapitel». Vielleicht würde ich so übersetzen:
A fejezet. A végét megtalálni!
– wiewohl das ungarische
megtalálni
nach meinem Gefühl hier nicht ganz relevant ist.) Egal: das alles rechtfertigt noch nicht einen ungemein gebildeten und ungemein törichten Artikel von Szegedy-Maszák, in dem er versichert, daß alles Übersetzen vergeblich und die Werte einer Nationalliteratur nicht vermittelbar seien. Ich für meinen Teil habe die ganze Weltliteratur aus Übersetzungen kennengelernt, und es ändert überhaupt nichts daran, wenn, sagen wir, in den
Brüdern Karamasow
beim Gespräch mit dem Teufel das Altslawisch nicht aufs genaueste übersetzt ist. Am Beispiel eines Autors: Benedek Virág bedeutet mir weder auf Ungarisch noch in türkischer Übersetzung irgend etwas – allerdings bin ich ja ein Vaterlandsverräter. Aber was die Nationalliteraturen für sich bewahren, diese Geheimnisse ähneln den stickigen Geheimnissen des Familienlebens, die letztlich gar nicht so interessant sind: Egal, ob die Mutter einen Orgasmus hatte oder der Vater pädophil war – das Wesentliche ist, ob der Schriftsteller etwas an der Gattung selbst verändert, sie vorangebracht hat, ob er etwas geschrieben hat, was es vor ihm noch nicht gab, und wenn das geschehen ist, ganz gleich, in welcher Sprache, wird das Werk mit Sicherheit in die Weltliteratur aufgenommen.
25 . August 2002 Wiewohl mein Buch
Liquidation
vollkommen fiktional zu sein scheint – und manchmal rede ich mir selbst ein, daß es so ist –, bin ich mir darüber im klaren, daß seine Wurzeln tief in mein Leben reichen und der Roman dem Wesen nach Selbstbestrafung und bekennende Buße ist und nichts anderes. Warum würde er mich sonst so interessieren? Warum arbeite ich schon seit dreizehn Jahren daran, wenn ich richtig rechne? Und warum würde er mich sonst mit soviel Schmerz, Beklemmung und Erregung erfüllen, so wie ein Landungsbefehl, bei dessen tausend möglichen Komponenten man immer mit der ungünstigsten rechnen muß?
26 . August 2002 Und es gibt auch eine Schuld, die nicht zu bekennen und zu verzeihen ist. (Die kleine Dienstmagd; Annuschka, Nuschi; ich war dreizehn Jahre alt, dreizehneinhalb: das erbarmungsloseste Alter des Menschen, des werdenden Mannes. Keine Empathie, kein Wissen, nur blinde Selbstsucht. Ich könnte es gar nicht erzählen, weil die Sprache nicht die ganze Wirklichkeit der Geschichte abdecken könnte: die Erbarmungslosigkeit der Tat und die Unschuld des Bewußtseins.)
29 . August 2002 Die Korrekturen zur ungarischen Neuauflage von
Ich – ein anderer
abschließend, erstaunt mich die Originalität und, ich sage es ohne falsche Scham: Größe des Buches. Ich finde da für viele Dinge endgültige Formulierungen. Und ermesse angstvoll den seither erfolgten physischen und geistigen Niedergang. Darf ich noch Bücher schreiben? Daneben ergreift mich ein tiefes Bedauern, daß niemand dieses Buch gelesen hat bzw. liest bzw. lesen wird. Weil es auf
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