Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
erwachsener, freier Mensch leben zu dürfen. Jetzt bin ich 73 und kämpfte bislang vergeblich. Ich werde bis zu meinem Tod der brave kleine Junge sein, der heimlich masturbiert, lügt und manchmal in die Ecke gestellt wird.
19 . August 2002 Gestern abend im Restaurant Diekmann, hier in der Meineke-Straße. Mir wird versichert, daß ich ein außerordentlich angesehener Autor sei – den allerdings – muß ich daraus folgern – niemand liest. Nur eines meiner Bücher wird gelesen, der
Roman eines Schicksallosen
. Dieser Tage bekam ich die fünfte Auflage der deutschen Taschenbuchausgabe von 1999 ausgehändigt. Das
Galeerentagebuch
gelte als ein «schwieriges Buch», man könne es zwar nicht lesen, doch wisse jeder sozusagen um seinen moralischen Rang. Würde ich mich wohl selbst lesen? Ich glaube, ja. Für mich selbst wäre ich ein wichtiger Autor. Deshalb verdirbt es mir auch nicht im geringsten die Laune, daß man mich so wenig liest. In Wirklichkeit habe ich auch so schon mehr für das bekommen, was ich hervorgebracht habe, als andere ausgezeichnete Autoren, die ich selbst für groß halte. Vor allem kann ich mir erlauben, in Berlin zu leben, und muß nicht in Ungarn vegetieren. Ich habe meine Kunst schon immer als ein einsames Vergnügen betrachtet, das einzig mit mir und meinem Gott zu tun hat und sehr wenig mit den sogenannten und nicht vorhandenen Lesern. Wenn mein Leben mit meiner Existenz identisch ist – was sich, glaube ich, kaum bezweifeln läßt –, dann habe ich nicht umsonst gelebt. Vom Standpunkt des Gebens und Nehmens, der Konsumierung, mag es sein, daß ich umsonst gelebt habe; die ethische Kreativität als Wert wird am Ende wahrscheinlich völlig verschwinden, da sie das Ergebnis einsamer und aristokratischer Betätigung ist; einzig die Dummheit ist demokratisch, und die Verkaufsstatistik.
Nicht der Roman ist tot, sondern der Leser.
22 . August 2002 Eine Welt ohne Werteordnung ist eine Welt der Ironie. Aber wer kann in dieser weiten, doch äußerst gefährlichen – da freien – Welt existieren? Der liberale Geist, der ursprünglich das Beste wollte, hat mit seiner postmodernen Prinzipienlosigkeit die Intellektuellen in den Nihilismus und die Massen in Ratlosigkeit getrieben. Die Welt der Ironie ist die Welt Mephistos – doch auf sie wartet die Niederlage, auf die Begünstigten aber die Erlösung. Die jüngsten Entwicklungen geben Goethe recht. Die Masse braucht eine Werteordnung, sonst schafft sie sich ihre eigenen Werte, und dann wehe dieser Welt.
Gestern habe ich Berlin verlassen. Morgens, auf dem Weg nach Tegel, betrachtete ich noch aus dem Taxi die in sanftes Licht gehüllten Platanenreihen des Kurfürstendamms. Budapest empfing mich mit mürrischen Gesichtern und trotziger Übellaunigkeit: Wie sich herausstellte, war wegen des Hochwassers das Feuerwerk zum 20 . August verschoben worden. Die böse Kindergesellschaft dieses Landes hatte ihr Betthupferl nicht bekommen. Nun ist sie beleidigt und schimpft auf die Amerikaner.
23 . August 2002 Sollte ich das
smarte
amerikanische Ehepaar nicht erwähnt haben, das wir in Berlin im Restaurant Diekmann kennenlernten? Beide um die fünfundsechzig; die Frau außerordentlich gepflegt, sorgfältig frisiertes, wenn auch dünnes, schütteres Haar, das Gesicht fast aufregend zu nennen, wenn nur irgend etwas Originelles darin gewesen wäre. Der Mann (ein pensionierter Zahnarzt, wie sich herausstellte): Kommunismus? Wer erinnert sich heute schon an den Kommunismus, er ist doch verschwunden, oder nicht? Sicher, es muß unangenehm gewesen sei …
too much control
…
And bad food
… Und so fort. Es war nicht amüsant, eher traurig, eigentlich zum Verzweifeln. Ich erwähnte das Problem der fortbestehenden Zweiteilung Berlins. Wie kann das sein? fragte er. Verstehen sie einander nicht? Aber es sind doch alles Deutsche … Altgewordene Babys, die aber auffallend viel von der Börse verstehen und davon, sich Gewinne zu sichern.
Eigentlich sollte ich eine geistige Autobiographie schreiben.
Inzwischen ist offenkundig – inzwischen? wie lange schon! –, daß ich in der Literatur, in deren Sprache ich schreibe, keinen Platz habe. Ich verstehe auch das Land nicht, dessen Bürger ich bin. Was habe ich mit dem Spitzel-Ungarn zu tun? Was mit der Denunziantenmoral, die dieses Land geprägt hat? Ob das nicht doch meine größte Schuld ist? Daß ich keine Mitschuld übernommen habe, keine Komplizenschaft eingegangen bin, nicht am
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