Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Florenz. Die Säulen des Forum Romanum im Feuer der nächtlichen Scheinwerfer. Magdas glückliches Gesicht. Die Piazza di Spagna: Am oberen Treppenende wohnen wir, im Trinità dei Monti, ganz Rom vor unseren Augen. Kertész de luxe. Ein rares Geschenk guten Lebens, und so muß man auch damit umgehen: ohne Dünkel und schlechtes Gewissen.
Die Villa Borghese hatte ich mir anders vorgestellt, wie auch die Via Veneto. Beim Frühstück läßt sich eine mächtige, grau-weiß gefiederte Seemöwe auf dem Fenstersims hinter der Glaswand nieder. Sieht zu, wie wir essen. Augen gelb-grün, Geduld endlos. Manchmal bewegt sie den Schnabel, mimt ein Mahl, zeigt, wie sie äße. Hin und wieder stößt sie einen Schrei aus, schüttelt den Kopf, aus dem Schnabel spritzt irgendeine Flüssigkeit gegen die Glasscheibe. Als sie den Kellner erblickt, rennt sie den Fenstersims entlang, der Kellner öffnet ihr eines der Fenster. Jetzt zeigt die Möwe ihr wahres Gesicht, wie unser Kellner, ein ausgedienter Anarchist, sagt. Der zahme Vogel verwandelt sich in ein kreischendes Ungetüm: Mit aufgerissenem Schnabel und ausgebreiteten Flügeln fällt er über das Futter her. Dieser glorreiche Moment des Sieges ist für die Möwe schon der Gipfel ihrer ästhetischen Möglichkeiten. Wäre sie ein Adler, würde sie als natürliches Piktogramm des Sieges auf Staatswappen und in die obere Ecke adligen Briefpapiers kommen. Dabei ist diese Schönheit, diese bösartige Schönheit nur ein irreführendes Bild des Hungers: Ihr fehlt das Erhabene, um ein Wort Kants zu gebrauchen. Überdies geht es hier um eine wehrlose, zur Flucht unfähige Beute: ein Stück Brot, das ihr der Kellner hingeworfen hat. Sie aber führt das mörderische Schauspiel trotzdem auf: aus Irrtum? Oder ist es der Dank des Bettlers für das Almosen? Wie auch immer, jedenfalls ernüchternd. – Irgendwie tut es gut, nach Berlin «heimzukehren».
23 . April 2003 Selbstportrait, nachts um drei Uhr neunzehn. Mit schmerzendem Rücken, das Hirn von Schlafmitteln durchtränkt, erhebt sich mittels verschiedener Hilfen eine Gestalt aus dem Bett, wo sie sich bis dahin hilflos herumgewälzt hat, taumelt bedrohlich unsicher durch die halbdunkle Wohnung und sinkt vor den Computer nieder. Über dem Pyjama die Jacke eines lumpigen Hausanzugs, die Haare kleben in wirren Büscheln am kahlen Kopf; ziellos öffnet die Gestalt den Computer, doch gibt es in ihrem Leben anscheinend Momente, wo sie das Schreiben schon so vermißt, daß sie in die Maschine zu hämmern beginnt, ohne etwas zu sagen zu haben. Zwischendurch schläft sie …
30 . April 2003 Rückenschmerzen. Chaos. In München mit H. und Frau. H.s «ernster» Frage, die ich in der Eile nicht verstand und deshalb nicht ernsthaft beantwortete. Sie lautete (im wesentlichen), ob es möglich sei, daß auch ein Antisemit, der
Die exilierte Sprache
liest, mit dem Inhalt einverstanden sein werde. Eine äußerst peinliche Frage – würde ich antworten –, weil diese Möglichkeit eines Mißverständnisses ebenso besteht wie jene andere, mich eventuell zu verstehen.
7 . Mai 2003 Die Todesnähe adelt den Menschen nicht immer, ganz im Gegenteil; es gibt Sterbende, die Skalps mit sich ins Jenseits nehmen möchten.
9 . Mai 2003 Am Horizont ein unheilvolles Vorzeichen bezüglich des Romans. Möglicherweise wird die dort eingenommene Perspektive Bestürzung hervorrufen – als blickten wir durch ein umgedrehtes Fernglas auf Auschwitz. Aber geht es nicht gerade darum, daß uns nur noch die nackte Tatsache bleibt, als zäher, unverdaulicher Brocken, der einem für ewig im Hals steckenbleibt?
11 . Mai 2003 Gestern in Jena, ich las zusammen mit Semprún in der Aula der Universität: Was sich in diesem kurzen Satz resümieren läßt, ist so inhaltsreich, daß es mich zu Tränen rührte. Ich umarmte diesen schönen, weißhaarigen Mann mit den dunkel glühenden Augen, der mir spielerisch in den Arm boxte – vielleicht war auch er ein bißchen gerührt. Ist mein Leben nicht wunderbar? Am Ende erfüllt sich noch so vieles … Und doch lebe ich nicht das erhabene Leben der Weisen, sondern in der angespannten Hast des gehetzten Menschen: Ich fliehe – wovor? Wohin? Da vorn ist nur der Tod, was anderes ist dort nicht zu finden … Hat das Eile?
12 . Mai 2003 Ein alter Mann schlurfte den Krankenhausflur hinunter. Ich blicke ihn erschrocken an. – Wenn sie den Krankensaal betrete, sagt T., die Chefärztin, und die Alten da lägen (ohne Gebiß, ohne
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