Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Brille, ohne Hörgerät), sei sie nicht imstande, einen vom anderen zu unterscheiden: Wie die Säuglinge, alle gleich.
Es fällt mir schwer, mich damit abzufinden, daß ich keinen erzählenden Text mehr habe, an dem ich schreibe. Der Schmerz wühlt noch in mir. Ich hätte Lust, eine Periode meines Lebens zu erzählen; die schwierige Phase der seelischen Reifung, den Sündenfall, die schwierige und unverständliche Geschichte, wie ich zum Schriftsteller wurde. Vielleicht sollte ich mit dem Gefängnis beginnen.
23 . Mai 2003 Vielleicht auch noch heute, da so wenig Gefühl und Sinn für Kunst vorhanden ist: auch heute noch wären die Menschen wohl überrascht, den Urgrund zu erfahren, aus dem große Kunstwerke erwachsen. Meist sind es zwei Arten von Empfindungen: Scham und Angst.
1 . Juni 2003 Vergangene Woche nach Wien, um Ligeti zu besuchen. Seine Physis zwingt ihn aufs Kanapee, aber die Augen strahlen aus der Krankheit hervor, der weiße Bart gibt ihm etwas ergreifend Durchgeistigtes. Zum Schluß redeten wir wie Teenager über Gott. Er ist Atheist. Du mußt die naturwissenschaftliche Denkweise studieren, sagte er. Ich fragte, ob er die Welt für erkennbar halte, und er parierte ohne Zögern: Ja. Ich sagte ihm, wenn die Welt erkennbar wäre, lohnte es nicht zu leben; er verstand nicht, warum, und ich vermochte es ihm auch nicht zu erklären.
26 . Juni 2003 Gestern ist der vielleicht letzte verheerende Sturm über mich hinweggefegt. Wie eine Flaumfeder wirbelte er mich herum. Ich schrie aus der Tiefe des Orkans, suchte Halt in der Nähe. Meine Seele war so schwarz wie der Ozean. Ich überließ mich dem Untergang, der Zerstörung, meine Hand glitt vom Steuer. Ich stand auf der Wache und sah zu, wie das richtungslose Schiff schlingerte. Meine Hand versteifte sich, wenn sie zufällig an die Instrumente kam, sie spürte kaum noch etwas. Mein Körper war erstarrt. Ich war müde, unendlich müde. Es war stockdunkel, und als die Stunden vergingen und das Licht sich nicht veränderte, begriff ich, daß es nie mehr hell werden würde … Und fragte entsetzt: Ist das schon das Ende? So, als wüßte ich es nicht.
28 . Juni 2003 Heute (bzw. gestern, weil heute jetzt, zwei Uhr 44 morgens, eigentlich bereits gestern ist): heute morgen also bin ich mit der Idee vom
Einsamen von Sodom
aufgewacht. Außerdem beschlossen wir heute morgen, die gegenüberliegende Penthouse-Wohnung in der Meineke-Straße zu mieten. Das Fenster meines Arbeitszimmers würde dann nach Westen blicken, auf die Dächer von Berlin.
Berlin verdanke ich die Inspiration zu der Idee vom
Einsamen
; ich stelle mir vor, daß Lot auf der Terrasse des Kempinski sitzt, sich wahrscheinlich eine Zigarre anzündet und, während er dem unter den Bäumen des Kurfürstendamms dahinströmenden Verkehr zuschaut, leise zu sprechen beginnt. Wenn himmlische und irdische Gnade es zuließen, daß ich diesen Roman schreiben könnte, würde sich die Zeit erfüllen und der Kreis schließen. In den Ruinen der ehemaligen türkischen Botschaft in der Zivatar-Straße meckerte noch eine Ziege, als ich – etwa 1954 – diese Geschichte einem jungen Mann namens Péter Kiss erzählte, mit dem ich gemeinsam Pläne für unsere Zukunft als Schriftsteller schmiedete. Dieser junge Mann ist schon lange tot; von unserer gemeinsamen Redakteurin hörte ich um 1975 wieder von ihm, nachdem ich ihm schon seit Jahrzehnten nicht mehr begegnet war. Damals war der
Roman eines Schicksallosen
erschienen, und Péter Kiss brachte seine Verwunderung zum Ausdruck, daß ich meine Zeit einer so flachen Literatur gewidmet hätte. Er selbst hatte einen historischen und philosophischen Roman über einen frühen Heiligen – Origenes? – geschrieben, den ich mehrmals zu lesen versuchte: Das Buch löste eine ähnliche Empfindung in mir aus wie eine Bärenzucker genannte Süßigkeit in meiner Kindheit: eine Art schwarze, einem unendlich langen Spaghetti gleichende Süßigkeit, klebrig und zäh und wegen ihres scharfen Geschmacks eigentlich ungenießbar. Ich ekelte mich lange davor, bevor ich sie endlich aß. Das Buch durchzulesen hielt ich dagegen nicht aus.
Sollte mir also die Gnade gewährt werden, könnte ich einen großen, zusammenfassenden Roman schreiben, dem jedoch überhaupt nicht anzusehen wäre, daß er groß und zusammenfassend ist. Ich könnte das, was ich bisher eher in der Sprache der Wirklichkeit erzählt habe, auf eine mythische Ebene heben. Ich müßte ein Exzeß-Ritual finden, das die
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