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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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erleichtern, dennoch halten sie sich; Berufsehre nennt man so etwas, und heute verfügen nur noch ziemlich wenige über diese Tugend.
     
    23 . Dezember 2003  Die vergangene Woche ist wohl kaum rekonstruierbar. Jeden Tag Programm, jeden Tag Menschen. Ärzte. Zahnarzt, Urologe – der Befund der Untersuchung auf Prostatakrebs ist nebenbei bemerkt «nicht völlig negativ». Die «Familie». Das ständige Gefühl, etwas zu versäumen, jagt M. von einer Verabredung zur anderen, in ihrer Gutmütigkeit steht sie Hinz und Kunz zur Verfügung: Ich kann mich nicht erinnern, daß ich in der Wohnung auch nur fünf Minuten hätte allein sein können. Die Dreharbeiten haben begonnen, anfangs genoß ich meine Situation mitten in dem entstehenden Film, ging dann aber doch mit schlechten Eindrücken nach Hause. Aus dem Chaos leuchtet András Schiffs Konzert hervor; anschließend zu dritt Abendessen bei Fausto. M. leidet unter der Gürtelrose. Dazu kam, daß am 21 . meine Rückkehr nach Berlin bevorstand, weil die Rede für Reemtsma geschrieben werden muß.
    Nun sitze ich also in Berlin und kämpfe seit zwei Tagen gegen meine Erschöpfung an; mein körperlicher Zustand verschlechtert sich rapide. Die Einzelheiten lassen wir jetzt. Ich leide unter diesen nichtssagenden, trivialen Zeilen. Im Flugzeug nach Berlin las ich von Sándor Márai
Was nicht im Tagebuch steht
, also die Abfälle seiner Arbeit: Sie enthalten ungemein viele Plattheiten, darüber hinaus antisemitische Bemerkungen über die «levantinischen Zigeuner», die Bartók beim Durchbruch in Amerika Steine in den Weg gelegt hätten. Das ist doch eine wirklich niederträchtige Feststellung, nach allem, was die sogenannten christlichen Ungarn Bartók angetan haben; sie haben ihn verspottet, durchfallen lassen, ausgegrenzt. Seine Landsleute verstehen ihn bis heute nicht, zumindest nicht so, daß sie ihn als Künstler ins Herz schlössen. Er bleibt für sie ein schwerer Brocken, der ihnen im Halse steckt. – Heute vormittag eine schwere Tachykordie, ich dachte, sie würde nie enden. Ich fiel aufs Bett und schlief für ein paar Minuten ein. Obwohl mein Organismus ein Trümmerhaufen ist, fehlt mir die sexuelle Aktivität.
     
    25 . Dezember 2003  Weihnachtstag. Gestern? Einkäufe, als müßte ich mich auf einen Krieg vorbereiten und Vorräte horten: der gewohnte Weihnachtsfluch. Mittags aß ich bei Dressler, wo natürlich auch während der Weihnachtstage geöffnet ist; dann versank ich in ein dumpfes Dahinvegetieren, aus dem ich bis zum Abend nicht mehr herausfinden konnte. In der Nacht wachte ich auf und hörte wieder András Schiffs
Goldberg-Variationen
, während ich in den Regalen vergeblich nach Ligetis Interview-Band suchte. Am Morgen früh erwacht, sitze seit etwa acht Uhr am Computer (jetzt ist es nach zehn) und habe den ersten Absatz für die Reemtsma-Rede geschrieben. Und nun gehe ich frühstücken.
     
    26 . Dezember 2003  Früher Morgen, mühsam aufgestanden. Umständliche Vorbereitungen zum Frühstück. Irgendwie hatte ich keine Lust zur Fortsetzung der Rede. Statt dessen packte mich die Wut, und ich formulierte zwei Absagebriefe. In beiden berufe ich mich darauf, daß ich das 75 . Lebensjahr erreicht habe und die mir noch verbleibende Zeit allein für mein Werk verwenden möchte. (Nebenbei ist es auch so.) Dann las ich doch den gestrigen Versuch durch (Reemtsma-Rede): Er ist gut bzw. angemessen. Zwischendurch Telefongespräche mit M. Gestern abend hörte ich im Radio den Schlußchor aus Debussys
Saint Sébastien
, und er gefiel mir so, daß ich heute Kocsis’ Debussy-Platte auflegte. Am Nachmittag machte ich mich zum Essen auf, eigentlich ins Reinhards, das ich aber einfach nicht finden konnte: An der gewohnten Stelle wird gebaut. Oder hat der Niedergang Berlins womöglich auch das Reinhards erreicht, und es ist geschlossen worden? So aß ich dann am Olivaer Platz, in einem angenehm beleuchteten Lokal mit anheimelnder Atmosphäre. In meiner Nähe saßen Russen – einfache Leute, also ungewöhnlicherweise weder Mafiosi noch Bettler. Die Frau trug eine schwarze Männerschirmmütze, eine Art Südwestern, den sie die ganze Zeit auf dem Kopf behielt, an ihren Ohren dünne, dennoch auffällige und sehr weiblich wirkende Gehänge; eine eigenwillige Erscheinung. Der Mann, ein unscheinbares, dunkelhaariges Männlein, offensichtlich der Schildknappe seiner Frau, suchte solange unschlüssig in der Speisekarte herum, bis schließlich die Frau dem Kellner sagte, was ihr

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