Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Tag. Tiefe Depression. Beiläufig fiel mir ein, daß ich bald 75 Jahre alt bin. Nicht vorstellbar. Doch es bedeutet bereits Todesnähe. Wahrscheinlich hatte das, was ich hervorgebracht habe, überhaupt keinen Sinn. Wer liest schon Ungarisch? Ein paar Geheimpolizisten mit Sonderauftrag. Einem Artikel in
ÉS
zufolge haben meine Übersetzer zugegeben, daß sie die Spitzen meiner Texte einebnen, «um den Geschmack der Leser nicht zu verletzen». – Den ganzen Tag nichts gemacht. Zur Depression gesellt sich Müdigkeit. M. tut mir leid, und ich tue mir selbst leid. Mit meinem schöpferischen Leben ist es, fürchte ich, aus und vorbei.
11 . Dezember 2003 Die Rekonstruktion des gestrigen Tages; wahrscheinlich gar nicht möglich. M.s Zustand aber hat sich sprunghaft gebessert. Vormittags ging sie einkaufen, später erschien der außergewöhnliche Freiherr von Brück; er stellte Rezepte aus, wir unterhielten uns ein bißchen. Darüber hinaus habe ich den ganzen Tag nichts gemacht, überhaupt nichts. Abends gingen wir zum Essen zum Italiener hinunter; ein paar unergiebige Telefonate, dann, halb zwölf, ins Kino; ein amerikanisch-englischer Film,
Master and Commander
– auf einem englischen Kriegsschiff, zur Zeit Napoleons. Technisch wie darstellerisch hervorragend gemacht. Halb drei zu Fuß nach Hause – außer in Berlin-Charlottenburg würde ich das höchstens noch in Wiens Innenstadt wagen. Gegen halb vier kamen wir ins Bett, um vier wiederholte sich M.s mit schrecklichen Schmerzen verbundener Muskelkrampf, der zum ersten Mal im Kino aufgetreten war. Ich hob sie aus dem Bett, weil sie laut jammerte und nicht wußte, wie sie die verhärteten Muskeln lockern sollte. Schließlich legte ich sie wieder hin, und während ich sie zu beruhigen versuchte, überkam mich die Liebe. Es war ein wundervoller Morgen. Jetzt ist es acht Uhr, und ich habe in dieser Nacht eine einzige Stunde geschlafen.
12 . Dezember 2003 Gleich drei Uhr. Gerade bin ich in den Turm gekommen; habe etwa anderthalb Stunden geschlafen, mit Schlafmittel. Neuerdings habe ich den Computer auf einem kleinen Gestell vor mir – ich bekam es von M. –, zu dem ich meine Hand nicht aus der Schulter heraus heben muß, wie es der Fall ist, wenn der Laptop auf dem Schreibtisch steht.
Gestern vormittag holten wir den Schmuck ab, den ich M. zu Weihnachten gekauft und schon im Sommer angezahlt hatte. Nach allen Seiten funkelnde Gegenstände hinter Glas; an der Wand ein Grosz-Bild, ein seltsamer Akt; sie verlangten an die 14 000 Euro dafür. Ich hätte es gern an einer Wand unserer Wohnung gesehen.
Voller Neid las ich in der
FAZ
, daß der neue Nobelpreisträger für Literatur, Coetzee, keine Interviews gibt, sich auf keine Gespräche einläßt, nicht über Literatur redet, nur über Rugby. Mich hingegen erwartete zu Hause ein zweiseitiges Fax mit allen möglichen gräßlichen Ansinnen, was alles anläßlich des Erscheinens der französischen Ausgabe von
Liquidation
(im kommenden März) getan werden sollte. Lustlosigkeit, tiefe Müdigkeit; gegen Abend legte ich András Schiffs
Goldberg-Variationen
auf, das tröstete mich ein wenig. M.s kleines Mobiltelefon läutet am laufenden Band. Am Abend meldete sich der Direktor des Reformierten Gymnasiums von Pápa bei ihr: Meine Anwesenheit in Pápa (am 15 .), die ursprünglich für ein Gespräch mit Schülern dieses Gymnasiums gedacht war, beginnt beängstigende Ausmaße anzunehmen: Es ist schon so weit, daß das Gespräch wegen der großen Zuhörerschaft in einer Kirche abgehalten werden soll und so nicht mehr zu kontrollieren sein wird, aus welchen Leuten sich die Zuhörerschaft zusammensetzt. Ich wage es nicht, M., die mir die ganze Sache eingebrockt hat, Vorwürfe zu machen; sie sagt, man würde mich doch liebevoll empfangen und es sei schließlich meine Aufgabe, für die Leute dazusein. Allmählich wenden sich alle meine Absichten und Bestrebungen gegen mein eigenes Leben. Merkwürdig, aber das Leben basiert auf Lügen und nichts als Lügen, und ich treibe hilflos darin herum, auch ich lüge. Warum kann ich nicht aus diesem Mechanismus austreten? Ich verstehe mich selbst nicht, ich verstehe mein Leben nicht. Am späten Abend rief ich meinen Freund Kállai an: War dieser verdammte Nobelpreis nötig, sagte er, wir könnten jetzt in aller Ruhe am Donauufer spazierengehen und uns unterhalten. Ja, alles hat sich von Grund auf verändert, stumm und hilflos folge ich diesen Veränderungen, diene ihnen, statt sie zu
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