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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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beherrschen oder zu genießen. Am späten Abend rief Vera Ligeti an; der arme L. ist weiterhin in einem äußerst schlechten Zustand, aber er liest – gerade hat er den
Doktor Faustus
beendet. Wie oft habe ich mit ihm schon über dieses Buch diskutiert, das er nicht schätzte, jetzt, sagt Vera, lobt er staunend seine Größe. Wir gingen (relativ) früh zu Bett.
     
    13 . Dezember 2003  Das Aufzeichnen dieser Trivialitäten hat wirklich keinen Sinn. Außer natürlich den, meine Hilflosigkeit, meine tägliche Schande zu dokumentieren. Zudem ist es auch sprachlich von Übel, denn ich schreibe schlechte Sätze.
     
    Egal. Also gestern. Da wir am Vortag, des Films wegen, kaum geschlafen hatten, spätes Aufstehen, Frühstück, dann, nach kurzem unschlüssigem Herumtappen, schlief ich wieder ein und zwar in dem Liegesessel, der in meinem Turmzimmer steht. Danach Kleinigkeiten einkaufen am Kurfürstendamm (Medikamente usw.). Abendessen mit Ingrid (im Ottental, dem Wiener Restaurant in der Kantstraße). Der schlechte Vertrieb bzw. der Nicht-Vertrieb von
Liquidation
; ich werde der Patronin, die niemand anderes als Unselds Witwe ist, einen Brief schreiben müssen und darin «meiner tiefen Enttäuschung» [4] Ausdruck geben. Nach Hause, packen, M. fliegt heute nach Budapest. Ich folge morgen.
     
    Mich beschäftigt das Problem meiner «Fremdsprachigkeit». In der
Süddeutschen Zeitung
erschien eine schöne Kritik des
Spurensucher
-Hörbuchs; der Text ist von einem Schauspieler namens Walter Kreye eingelesen und zwar wunderbar. Mir wurde bewußt, daß ich den deutschen Text meiner Arbeiten eigentlich besser kenne als das Original. Einschließlich der Fehler natürlich. Aber ist das nicht bezeichnend?
Der Spurensucher
zum Beispiel wurde von der ungarischen Kritik kaum eines Wortes gewürdigt. Folgt man den ungarischen Kritiken, Monographien und weiß der Teufel was noch, so ist meine schriftstellerische Laufbahn seit dem
Roman eines Schicksallosen
eine fortlaufende Katastrophe, ein Niedergang, ein hoffnungsloser und peinlicher Kampf mit meiner Unbegabtheit. Vor allem die Essays und
Ich – ein anderer
werden bemängelt; meinen Europa-Essay, den Genscher, wie er sagte, «mit großem Interesse las», hält man in Ungarn für Geschwätz.
Die englische Flagge
, das
Galeerentagebuch
werden höchstens als schlechte Beispiele zitiert, ganz zu schweigen von
Fiasko
, das man von der ersten bis zur letzten Zeile für mißlungen hält. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als das Schicksal meiner Arbeiten im Ausland zu verfolgen. Und interessanterweise kann ich diesen Zustand ohne Sprache oder zwischen den Sprachen akzeptieren, wie ich auch meine Berliner Existenz akzeptiere. Auch ich werde sterben, und meine Werke werden verschwinden; es hat sich gelohnt, sie zu schaffen, aber es ist überflüssig, sich ihretwegen Sorgen zu machen. Sie leben ihr eigenartiges Leben, wie und solange sie es können.
    Im übrigen ist M. heute morgen nach Budapest abgereist, und ich bin entschlossen, nichts zu tun. Ich ruhe den ganzen Tag aus, bereite mich auf die Qualen der nächsten Woche in der alten Heimat vor.
     
    14 . Dezember 2003  Wenn dieses Trivialtagebuch dazu dient, mit Hilfe eines verfremdeten Blickes ein wahres Bild von meinem Leben zu bekommen – also darüber entsetzt zu sein –, dann ist es das perfekte Mittel. Im übrigen habe ich mich heute, wenn auch nur mit Schlaftabletten, ausgeschlafen, mein Organismus protestierte dennoch gegen das Aufstehen – offenbar wegen der mir bevorstehenden Torturen (Packen, Flug, die Qualen zu Hause usw.). Üble, man könnte sagen, unheilverkündende physische Symptome, über die ich gar nicht genau reden könnte. Vor allem die Parkinson-Krankheit und die unendliche Erschöpfung.
    Hier werden die systematischen Tagebucheinträge wahrscheinlich enden, denn das Budapester Chaos wird mein Leben verschlingen.
     
    16 . Dezember 2003  Vorgestern abend glücklich zu Hause gelandet. Gestern gleich in Pápa, auf Einladung des Reformierten Gymnasiums. Es war bewegend. Wegen des großen Interesses fand die Veranstaltung in der Kirche statt. Als ich mit Magda eintrat, erhoben sich die Leute und sangen einen Psalm; mir kamen fast die Tränen. Anschließend Gespräch mit dem Lehrerkollegium – gute Gesichter, überarbeitete Pädagogen, die kaum von ihrer Arbeit leben können und dennoch ihre schwere Pflicht erfüllen; niemand fühlt sich für ihr Schicksal verantwortlich, niemand versucht, ihr Leben zu

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