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Letzte Ernte. Ein kulinarischer Krimi

Letzte Ernte. Ein kulinarischer Krimi

Titel: Letzte Ernte. Ein kulinarischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Hillenbrand
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mit der Nase an die Wange. »Und sie riechen genauso wie du.«
    Kieffer verstand, was sie meinte. Den ganzen Nachmittag hatte er in der kleinen Küche des »Roude Léiw« gestanden und in siedendem Fett Hunderte Kichelcher goldgelb gebacken. Es war inzwischen fast zwanzig Uhr, und er machte sich etwas Sorgen, ob die Kartoffeln bis zum Ende des Fouertages reichen würden. Denn der Andrang übertraf alles, was er erwartet hatte.
    Es mochte an seinen köstlichen Gromperekichelcher liegen, vielleicht aber auch am Wetter. Der häufig wolkenverhangene Luxemburger Himmel zeigte sich heute in seltenem Knallblau, es waren immer noch fünfundzwanzig Grad. Nicht nur das gesamte Großherzogtum schien sich auf dem Glacis eingefunden zu haben, sondern auch Ausflügler-Bataillone aus Lothringen, dem Saarland und der Eifel. Wie zäher Teig wälzte sich die Menschenmasse über die Fouer, quetschte sich durch die zu engen Gänge, drang in jede Ecke und Ritze. Alle Plätze in Kieffers Zelt waren belegt, vor dem Stand und im Eingangsbereich drängten sich die Menschen aneinander.
    Viele waren wegen der Band gekommen, die Kieffer als Stëmmungskanoun engagiert hatte. Eine Sängerin schmetterte seit mehreren Stunden alte luxemburgische Zech- und Fresslieder:
    Bei einem kühlen Humpen
Da saß Cojellico’s Jang
Mit einem Zigarstumpen
Und einem Belschen Frang
    Ihm graute vor dem Bezahlen
Er dachte mit Schreck an sein Kett
Gedachte mit höllischen Qualen
Des Besens neben dem Bett
    Viele der Einheimischen sangen mit. Der Lärm war ohrenbetäubend, die Stimmung prächtig – sah man von jenen kleineren Streitereien ab, zu denen es zwischendurch immer wieder kam. Diese waren angesichts der Enge und des reichlich fließenden Moselweins allerdings nichts Besonderes, und so schenkte Kieffer dem Gerangel im vorderen Teil des »Roude Léiw« zunächst keine Beachtung, sondern sah Valérie lieber weiter beim Essen zu. Das war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Sie hatte ihren ersten Kartoffelpuffer vertilgt und wandte sich nun dem zweiten zu. Als das vom Eingang zu ihm herüber dringende Gezeter jedoch immer lauter wurde, stand Kieffer auf, um sich die Sache genauer anzuschauen.
    Ein hagerer Mittdreißiger versuchte, an den anderen Gästen vorbei ins Zelt zu gelangen. Der Mann hatte das Kinn auf die Brust gesenkt, die Arme vor dem Bauch verschränkt und rempelte sich durch die Menge wie ein Rugbyspieler, der mit dem Ball geradewegs durch die Abwehrkette will. Er schob und schubste, Kieffer sah einen Becher fliegen. Die anderen Gäste reagierten auf dieses rüpelhafte Verhalten mit wütenden Flüchen und Ellbogenknuffern. Kieffer betrachtete den Mann, der etwa zehn Meter von ihm entfernt war. Er trug ein froschgrünes Button-down-Hemd und eine Nickelbrille, hinter der vor Aufregung geweitete Augen zu sehen waren. Sein Gesicht hatte einen seltsam konzentrierten Ausdruck, und er schien mit sich selbst zu reden, während er sich einen Weg durch die Menge bahnte. Mit rudernden Armen brach der Mann aus dem Menschenknäuel hervor.
    Den Stachel trug er im Herzen
Den belschen Frang in der Täsch
Und voll Verzweiflungsschmerzen
Bestellte er eine Fläsch
    Die an den Tischen sitzenden Gäste warfen ihm argwöhnische Blicke zu. Bevor Kieffer reagieren konnte, tauchten hinter dem ungehobelten Gast zwei weitere Männer auf. Einer versuchte, den Nickelbrillenträger zu fassen zu bekommen, griff jedoch ins Leere. Denn der Mann hatte inzwischen einen Satz nach vorne gemacht und lief nun torkelnd auf Kieffer zu. Der wohlgenährte Koch baute sich vor ihm auf. Es war ohnehin nicht viel Platz zwischen den Tischen, und er füllte den schmalen Gang komplett aus. Hier war Endstation. »Ganz ruhig, junger Mann. Was ist denn das Problem?«
    Der Kerl sah ihm nicht ins Gesicht, sondern starrte weiter zu Boden und murmelte dabei ununterbrochen vor sich hin. Er sprach Englisch, mit einer seltsam hohen, knödelnden Stimme, zwischen den Wogen von Musik und Gelächter drangen nur Wortfetzen zu Kieffer hinüber: »659, 661. 809, 811. 821, 823 … 1019, 1021 …«
    Was zählte der da?, fragte er sich. Der Gast mit dem knallgrünen Hemd war zweifelsohne ein seltsamer Bursche – wobei Kieffer auf der Fouer schon ganz andere Dinge gesehen hatte.
    Wie tief bist du gesunken
O Jang, was fängst du an?
Als er sich satt getrunken
Spielt er den wilden Mann
    Er arbeitete seit über zwanzig Jahren in der Gastronomie, und dies war nicht sein erster Betrunkener. So wie der Mann sich bewegte,

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