Letzte Ernte. Ein kulinarischer Krimi
Kieffer, dass es in dem Film weder Handys noch Forensiker mit Laptops gab. Außerdem rauchten sämtliche Darsteller ununterbrochen, sogar im Flugzeug.
Während des Films schaute Valérie immer wieder nervös auf ihr Handy. Für acht Uhr hatte sie der anonyme Anrufer ins »Le Bateau Bleu« befohlen, und nun war es bereits kurz vor zehn. Auch Kieffer erwartete, dass ihr Telefon jeden Moment klingelte. Doch niemand rief an, Commissaire Le Goff konnte den hinterlistigen Vittorio Manalese völlig ungestört durch halb Paris jagen. Valérie und Kieffer guckten den Film und leerten ein Sixpack Pilsener Urquell. Ein bisschen kam er sich dabei vor wie die eine Hälfte eines alten Ehepaars. Es fühlte sich nicht übel an. Als der Film endete, gingen sie sofort ins Bett und schliefen binnen Minuten ein.
12
Er steht oben auf der Brücke. Es ist ganz still. Normalerweise hört man das Geräusch der Motoren, vermengt mit dem Donnern, das die Autos verursachen, wenn sie über die Brücke fahren. Aber nun ist es wie ausgestorben. Er schaut nach oben, ins Zwielicht, will wissen, ob Tag oder Nacht ist. Aber so genau lässt sich das nicht sagen. Der Luxemburger Himmel ist dunkelgrau und wolkenverhangen, keine Sonne zu erkennen.
Er schaut durch die verkratzte Plexiglasscheibe und sieht in der Ferne Notre-Dame auf dem Bockfelsen. Unter ihm liegt Pfaffenthal. Vielleicht kann er den Russen ja von hier erspähen, der Mann liegt schließlich irgendwo dort im Tal. Er weiß genau, welche die Rue Ménager ist. Wenn er hinab in den Abgrund blickt, müsste er jenes schwarze Band erkennen können, das sich durch das struppige Grün der Unterstadt schlängelt. Und damit ließe sich abschätzen, von wo hier oben der Mann gesprungen ist.
Kurz überlegt er, ob die Polizei vielleicht irgendwo Markierungen angebracht hat, nach denen er Ausschau halten könnte. Aber dann wird ihm klar, dass dies erst später passieren wird. Er guckt hinunter, aber er sieht weder die Ménager noch sonst irgendetwas. Eine dicke Suppe brodelt unter der Brücke und verwehrt ihm den Blick ins Tal.
Man müsste irgendwie näher ran. Er schaut sich die Wand an. Sie ist drei Meter hoch und zur Innenseite der Brücke gewölbt, damit man nicht hinüberklettern kann. Er weiß, dass jahrelange Proteste nötig waren, bis man die Antiselbstmordvorrichtung baute, den dispositif anti-suicide, wie die Wand im Beamtenfranzösisch heißt. Wenn einer sprang, landete er in der luxemburgischen Selbstmordstatistik, Unterpunkt précipitation d’un lieu élevé, Sturz von einem erhöhten Ort. Was die Statistik nicht erwähnte, war, dass es sich bei besagtem Ort fast immer um die Rout Bréck handelte.
Er streicht mit seiner Hand über das verkratzte Plexiglas. Es fühlt sich seltsam warm an. Viele in der Oberstadt sahen nicht ein, warum man eine teure Schutzwand errichten sollte, nur damit Unterstädtler nicht in die Unterstadt sprangen. Zumal die Plexiglaswände nicht nur teuer waren, sondern auch sehr hässlich. Das fällt ihm auf, als er die menschenleere Brücke entlanggeht, über deren gesamte Länge sich der dispositif erstreckt. Die Plastikmauer zerstört das Gesamtkunstwerk, sie verschandelt eine Ikone. Gut, dass der Architekt das nicht mehr erleben musste. Vermutlich wäre er gleich als Nächster gesprungen.
Diese seltsamen Gedanken gehen ihm durch den Kopf, während er die Hände nach oben ausstreckt, mit den Fingern die Kante umschließt, und sich hochzieht. Ihm ist nicht ganz klar, wie er das macht, aber es geht ganz leicht. Schon ist er darüber hinweg, hinab, schon ist die Brücke über ihm. Er taucht in die milchige Suppe ein und gleitet hindurch.
Und dann steht er neben der Alzette, er kann den Fluss plätschern hören und über ihm rumpelt es. Die Autos fahren wieder. Er geht die Straße entlang, er weiß ja, wo der Mann liegt, irgendwer muss es ihm gesagt haben. Es ist gleich da vorne am Ufer, hinter dem Haus, wo Welschbillig, der Spengler, wohnt. Praktisch, hier einen Dachdecker vor Ort zu haben, denkt er sich, denn oft fallen sie ja nicht auf die Straße oder in den Fluss, sondern schlagen durch Dachziegel und First. Dann hat der alte Welschbillig wieder zu tun.
Er läuft die Rue Ménager entlang, will sich vergewissern, dass alles so ist, wie er es erinnert. Und nun kann er ihn sehen. Wie ein Schiffbrüchiger liegt er da vorne am Ufer, die Beine in der Uelzecht, den Oberkörper am Hang. Der Mann ist irgendwie komisch verdreht, selbst eine Akrobatin des chinesischen
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