Letzte Ernte. Ein kulinarischer Krimi
gespannten Zeitungen, die am Eingang auf einem Ständer hingen. Als er wieder auf die Uhr schaute, war es fast zwölf. Er betrachtete die vorbeieilenden Pariser. Das Café befand sich an einer lauten Kreuzung, auf der gegenüberliegenden Straßenseite war an einer Häuserwand eine jener riesigen Videotafeln angebracht, die inzwischen ganz Paris verschandelten. In einer Endlosschleife war darauf ein hübsches, sehr sommerbesprosstes Mädchen zu sehen, das sich ein quietschrotes Handy ans Ohr hielt und dabei mit den Hüften wackelte. Zum Schluss erschien immer eine Sprechblase neben ihrem Mund: »Ruf an und gewinne den Jackpot!«, gefolgt von einer Telefonnummer.
Manchmal wusste Kieffer nicht so genau, warum er bestimmte Dinge tat. Auch in diesem Moment war ihm nicht ganz klar, warum er sein Handy aus der Jackentasche holte und zu wählen begann. Vielleicht, weil ihn die Werbung daran erinnerte, dass er dies eigentlich schon gestern Abend hatte tun wollen. Vielleicht aus dem Bauchgefühl heraus, dass sich nun möglicherweise die letzte Gelegenheit dazu bot. Kieffer wählte nicht die Nummer auf dem Videoscreen gegenüber, sondern den Schweizer Landescode, gefolgt von der 33222222. Dann wartete er. Bereits nach dem ersten Freizeichen nahm jemand ab. Kieffer bereitete sich darauf vor, seinen Namen zu sagen, doch die Männerstimme am anderen Ende kam vom Band.
»Hallo. Wenn du hier anrufst, hast du die Karte ausgelesen und besitzt den Schlüssel.«
Fluchend stand Kieffer auf und lief mit dem Handy am Ohr zur Bar. Er signalisierte dem Barkeeper, ihm schnell einen Stift und einen Kellnerblock zu geben.
»Das Schloss befindet sich in der Rütligass 1, Jaggiwald. Sage dem Wächter meinen Namen sowie den der Göttin. Die Wahrheit befindet sich auf dem Zwillingsserver. Zu seiner Aktivierung benötigst du die vier Faktorschlüssel. Drei aus Hephaistos’, einer aus Hades’ Hand. Wir treffen uns am besprochenen Ort, wenn alles gelaufen ist.«
Dann hörte er ein Piepen. Die Verbindung brach ab.
Kieffer legte das Handy weg und wischte sich die Stirn ab. Er schwitzte am ganzen Körper, und sein Bauch hatte wieder zu krampfen begonnen. Denn die Stimme, die er eben gehört hatte, dieser hohe, vor sich hin knödelnde Singsang, gehörte einem Toten. Es war die Stimme des Betrunkenen aus dem »Roude Léiw«.
Kieffer zahlte und lief zurück zum Guide Gabin. Valérie wartete bereits im Foyer auf ihn. »Ich habe bei dieser Schweizer Nummer angerufen«, sagte er, während sie das Gebäude verließen.
»Wollten wir das nicht der Polizei überlassen?« Sie hakte sich bei ihm ein, als sie in Richtung des Boulevard Montparnasse schlenderten, wo sich der Taxistand befand. »Wer ist denn drangegangen?«
»Ein Tonband. Ich kannte die Stimme von der Kirmes, ich bin mir sicher, dass der Besitzer der Keycard diese Nachricht hinterlassen hat.« An der Place de Breteuil bogen sie in eine kleine Seitenstraße ab. Kieffer wollte seiner Freundin gerade den Inhalt der kryptischen Nachricht erläutern, als er durch schnelle Schritte aufgeschreckt wurde. Er drehte sich um und sah zwei Männer auf sie zurennen. Beide trugen schwarze Kleidung und Strumpfmasken. Es gelang ihm noch, Valérie eine Warnung zuzurufen, bevor der erste Mann ihn erreichte. Kieffer hob zur Abwehr die Arme, worauf der Angreifer in Boxstellung ging, nur um dann mit seinem durchgestreckten Bein seitlich gegen Kieffers Oberkörper zu kicken. Er meinte, eine Rippe knacken zu hören, bevor er in die Knie ging. Der Schmerz war so enorm, dass er den darauffolgenden Kinnhaken kaum noch spürte. Als er wieder Luft bekam, kniete der Angreifer über ihm und machte sich an den Innentaschen seiner Jacke zu schaffen. Benommen nahm er wahr, wie der Maskierte nach seinem Portemonnaie griff. Auf dem Boden liegend sah Kieffer, wie der Mann die Fächer des Geldbeutels durchwühlte. Dabei fluchte er. Kieffer hörte Kleingeld über das Trottoir kullern. Dann warf der Maskenmann die Brieftasche achtlos weg und entfernte sich.
Nach einigen Sekunden gelang es ihm, wieder aufzustehen. Der Mann war weiter die Straße hinuntergelaufen, in Richtung des Boulevard Montparnasse. Aus dieser Richtung hörte Kieffer nun einen bestialisch klingenden Schrei. Die Stimme gehörte nicht Valérie, sondern einem Mann, so viel war sicher. Kieffer lief den Bürgersteig entlang, Passanten beiseiteschubsend, in Richtung des Gebrülls. Einige Meter weiter kniete einer der Maskenmänner auf dem Boden. Vor ihm stand
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