Letzte Ernte. Ein kulinarischer Krimi
»Alles, worum ich Sie bitte, ist, mir den Inhalt der Voicebox zu verraten – die letzten Worte meines Bruders, die eigentlich für mich bestimmt waren. Damit ich ihn rächen, damit ich Melivia bloßstellen kann.«
Etwas leiser fuhr er fort. »Sie haben Aron als einer der Letzten lebend gesehen. Wenn die Dinge anders gelaufen wären, hätten Sie seine Verfolger vielleicht sogar verscheuchen können.«
Der Satz wirkte wie ein Tritt in die Magengrube. Die Frage, ob er vielleicht eine Mitschuld an Aron Kats’ Tod trug, hatte sich Kieffer in den vergangenen Tagen immer wieder gestellt. Er wollte etwas erwidern, aber Kats fuhr fort: »Sie müssen sich nicht rechtfertigen, ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Er war außer sich vor Angst, er war verwirrt, konnte vermutlich überhaupt nicht mehr sprechen, sondern nur noch seine Primzahlen herunterbeten. An denen hat er sich immer festgehalten, wenn seine Welt aus den Fugen geriet.«
Er schaute dem Koch in die Augen. »Sie tragen keine Schuld an seinem Tod. Aber vielleicht haben Sie die Verpflichtung, ihm zu Gerechtigkeit zu verhelfen. Geben Sie mir die Nachricht. Danach verschwinde ich, und Sie können meinetwegen die Polizei rufen oder tun, was immer Sie für richtig halten.«
Kieffer wusste, dass Efim Kats recht hatte. Es war nicht möglich, vor der Sache Reißaus zu nehmen, so wie er es eigentlich vorgehabt hatte. Das Auftauchen des Zwillings hatte die Lage grundlegend verändert.
»Also gut. Die Nachricht lautete: ›Die Wahrheit befindet sich auf dem Zwillingsserver. Zu seiner Aktivierung benötigst du vier Faktorschlüssel. Drei aus Hephaistos’, einer aus Hades’ Hand.«
Efim Kats schaute wie jemand, der etwas anderes erwartet hatte. Dann zog er ein kleines schwarzes Notizbuch aus seiner Gesäßtasche und notierte sich etwas. »Kryptischer, als ich dachte. Haben Sie eine Vermutung, was mein Bruder damit gemeint haben könnte?«
»Ich glaube, dass Hephaistos ein Hinweis darauf ist, dass es sich um metallene Schlüssel handelt, richtige Schlüssel.«
Kats schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nein. Es sind Faktorschlüssel, also Primzahlen. Es müssen vier Primzahlen sein, vermutlich mit sehr langen Ziffernfolgen, fünfhundert oder mehr Stellen.«
»An Kats’ Schlüsselbund hingen aber drei farbige Schlüssel. Deshalb dachte ich …«
»Farbige? Was für Farben?«
»Wenn ich mich recht entsinne waren sie goldgelb, lilafarben und rot«, entgegnete Kieffer.
Efim Kats sah aus, als sei er den Tränen nahe. »Aron, du Hund! Er hat genau gewusst, wie er seine Nachricht so verschlüsselt, dass sie kein Mensch außer mir enträtseln kann. Ich war bis eben fest überzeugt, dass er irgendwo sehr lange Faktorschlüssel versteckt haben muss. Aber stattdessen sind sie ganz kurz.«
»Ich verstehe nicht …«
»Die Schlüsselfarben!«, rief Kats aufgeregt. »Die 17 ist rot, karmesinrot. Die einzige Primzahl unter 100, die rot ist, hat Aron immer gesagt. Die 53 hingegen schimmert golden. Und die 97 …«
»… ist lilafarben?«
»Ja, lila und dreieckig«, Kats schrieb die Zahlen in sein Notizbuch. »Fehlt nur noch die vierte. Hades, sagten Sie?«
»Das Passwort für den Schweizer Bunker, in dem sich das Tablet befand, lautete Persephone. Meine Vermutung war, dass ›aus Hades’ Hand‹ sich deshalb auf den Granatapfel bezieht, den er ihr gibt. Aber geht es dabei ebenfalls um die Farbe? Granatapfelfarben?«
Kats antwortete nicht. Er schien angestrengt nachzudenken.
»Sehen Sie? Es ist sehr kryptisch. Was eine Frucht mit einer Zahl zu tun haben soll … ist das vielleicht auch griechische Mythologie?«, fragte Kieffer.
Der Amerikaner sprang auf. »Haben Sie einen Computer, Mister?«
»Nur einen altersschwachen PC mit Modem.«
»Das sollte für Wikipedia reichen. Ich glaube, ich habe eine Idee, was Aron gemeint haben könnte. Es hat tatsächlich mit Religion zu tun, aber nicht mit Olymp und Hades.«
»Sondern?«
»Sondern mit unserer Religion, mit der Thora.«
Kieffer führte Kats zu seinem Rechner. Während der Amerikaner zu dem enervierenden Düdelton seines alten Modems auf der Tastatur herumtippte, ging Kieffer ins Obergeschoss, zur Toilette. Auf dem Rückweg bog er in sein Schlafzimmer ab und hob, so leise er konnte, das Nachtschränkchen an und stellte es beiseite. Dann kniete er sich auf den Boden und löste mit den Fingern ein lockeres Stück im Parkett. Darunter legte er eine Aushöhlung frei, in der sich eine kleine Holzkiste befand. Sie enthielt die
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